Der Kuss des Meeres
1
Ich krache gegen ihn, als hätte mich jemand von hinten geschubst. Aber er weicht nicht zurück, nicht einen Zentimeter. Er hält mich nur an den Schultern fest und wartet. Vielleicht darauf, dass ich mein Gleichgewicht wiederfinde. Vielleicht darauf, dass ich mich fange. Ich hoffe, er hat den ganzen Tag Zeit.
Ich höre Leute auf der Strandpromenade vorbeigehen und stelle mir vor, dass sie uns anstarren. Im besten Fall denken sie, dass ich diesen Jungen kenne und wir uns umarmen. Im schlimmsten Fall haben sie gesehen, dass ich wie ein Walross gegen ihn getaumelt bin, weil ich nur auf den Boden geguckt habe, auf der Suche nach einem Platz, wo wir unsere Strandsachen abstellen können. So oder so, er weiß, was passiert ist. Er weiß, warum meine Wange an seiner nackten Brust klebt. Und es wird definitiv peinlich, sobald ich den Mut fasse, zu ihm aufzusehen.
Wie in einem Daumenkino sehe ich die Möglichkeiten vor mir aufblitzen.
Nummer eins: wegrennen, so schnell mich meine Flipflops aus dem Ein-Dollar-Laden tragen. Das Problem dabei ist nur, dass ich genau über diese Flipflops gestolpert bin und deshalb überhaupt in der Klemme sitze. Genau genommen habe ich auch noch einen von ihnen verloren. Wahrscheinlich steckt er in einer Pflasterfuge der Strandpromenade fest. Ich wette, nicht einmal Aschenbrödel ist sich dermaßen blöd vorgekommen. Aber Aschenbrödel war auch nicht so tollpatschig wie ein betrunkenes Walross.
Nummer zwei: eine Ohnmacht vortäuschen. Zusammensacken und alles, was dazu gehört. Inklusive sabbern. Aber ich weiß, dass das nicht funktioniert, weil meine Augenlider zu sehr zittern würden. Und außerdem läuft niemand rot an, wenn er bewusstlos ist.
Nummer drei: beten, dass ein Blitz einschlägt. Ein tödlicher, den man schon im Voraus spürt, weil die Luft prickelt und man eine Gänsehaut bekommt– so steht es zumindest in den Physikbüchern. Vielleicht tötet der Blitz uns beide, aber mal ehrlich, er hätte mehr auf mich achten sollen, als er gesehen hat, dass ich auf gar nichts achte.
Für den Bruchteil einer Sekunde habe ich das Gefühl, dass meine Gebete tatsächlich erhört werden, denn mein ganzer Körper beginnt zu kribbeln. Ich bekomme Gänsehaut und mein Blut pulsiert wie elektrisch geladen durch meine Adern. So langsam begreife ich, dass dieses Gefühl von meinen Schultern ausgeht. Von seinen Händen.
Letzte Möglichkeit: um Gottes willen endlich meine Wange von seiner Brust lösen und mich für die ungewollte Attacke entschuldigen. Und dann, bevor ich tatsächlich noch ohnmächtig werde, auf einem Flipflop davonhoppeln. Bei meinem Glück würde mich der Blitz sowieso nur verstümmeln, und er würde sich genötigt fühlen, mich irgendwohin zu schleppen. Also los!
Ich lasse von ihm ab und spähe nach oben. Das Feuer, das auf meinen Wangen brennt, hat nichts mit der Tatsache zu tun, dass es unter der Sonne Floridas dreißig schweißtreibende Grad hat. Vielmehr hat es damit zu tun, dass ich gerade gegen den attraktivsten Typen auf dem Planeten gestolpert bin. Wahnsinn.
» Ist– ist alles in Ordnung?«, fragt er ungläubig. Sehe ich da wirklich den Abdruck meiner Wange auf seiner Brust?
Ich nicke. » Mir geht’s gut. Ich bin an so was gewöhnt. Tut mir leid.« Er lässt nicht los und ich schüttele seine Hände ab. Das Kribbeln bleibt, als wäre irgendetwas von ihm immer noch auf mir.
» Himmel, Emma, alles okay?«, ruft Chloe hinter mir. Das leise Floppen ihrer Sandalen lässt darauf schließen, dass meine beste Freundin nicht so besorgt ist, wie sie klingt. Als Läuferass hätte sie schon längst an meiner Seite sein können, wenn sie gedacht hätte, ich sei verletzt. Seufzend drehe ich mich zu ihr um und bin nicht überrascht, ein Grinsen, so breit wie den Äquator, zu sehen. Sie hält mir den verlorenen Flipflop hin, und ich bemühe mich, ihn ihr nicht aus der Hand zu reißen.
» Mir geht’s gut. Allen geht es gut«, stottere ich und drehe mich wieder zu dem Typen um, der mit jeder Sekunde noch ein bisschen umwerfender wird. » Es geht dir doch gut, oder? Keine gebrochenen Knochen oder so?«
Er blinzelt und deutet ein Nicken an.
Chloe lehnt ihr Surfbrett an das Geländer der Strandpromenade und streckt ihm die Hand hin. Er nimmt sie, ohne mich aus den Augen zu lassen. » Ich bin Chloe und das ist Emma«, stellt sie uns vor. » Normalerweise schleppen wir ihren Sturzhelm mit, aber heute haben wir ihn im Hotelzimmer vergessen.«
Ich schnappe nach Luft. Und versuche
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