Der Kuss des Morgenlichts
Prolog
Er sah sie, und er wusste sofort, wer sie war.
Ein lauer Abend war einem schwülen Nachmittag gefolgt; die vielen Kirchen der Stadt läuteten das Ende des Arbeitstages ein – dröhnend und wuchtig die des Doms, heller und weicher die der Franziskanerkirche. Am Kai brauste die übliche Feierabendkolonne an ihm vorbei, dazwischen knirschten die Räder einer Kutsche, die japanische Touristen durch die Altstadt fuhr.
All diese Geräusche verstummten, als er sie sah. Und all die Menschenmassen, die er eben noch voll Überdruss an sich hatte vorbeiziehen lassen, schienen unsichtbar zu werden. Ein Ruck ging durch seinen Körper. Kaum fünf Schritte war sie an ihm vorbeigegangen, als er sich bereits von einer der Bänke an der Salzach erhob und sich an ihre Fersen heftete. Sein Blick brannte sich in ihren Rücken; ein unsichtbares Seil schien ihn hinter ihr herzuziehen.
Ganz gleich, wohin sie ging, wovon sie getrieben wurde, was sie plante, wie sie lebte – er würde ihr von jetzt an folgen und sie nicht mehr gehen lassen.
Nicht länger als die Dauer eines Wimpernschlags hatte ihm gereicht, um in die verborgensten Winkel ihrer Seele zu schauen.
Sie war eine der Auserwählten.
Und er – ob das nun lediglich Zufall oder der ausgeklügelte Plan einer fernen Schicksalsmacht war – hatte sie gefunden.
Er fühlte sich wie elektrisiert, seine Schritte wurden größer, der Atem schneller, aber nachdem er sich von der Wucht der jähen Erkenntnis ein wenig erholt hatte, gelang es ihm, seiner Erregung Herr zu werden. Er durfte sich nicht auffällig verhalten, sich ihr nicht einfach zu erkennen geben. Noch nicht.
Dies war ein Vorteil, wenn man so lange, so quälend lange auf dieser Welt lebte wie er. Nicht nur, dass er sich auf seine untrüglichen Instinkte verlassen konnte. Der Zauber der Liebe machte ihn auch nicht mehr willenlos und blind wie einst. Er konnte seine Gefühle kontrollieren, obwohl sie stark waren, die stärksten überhaupt, die betörendsten, die lebendigsten, die sehnsuchtvollsten.
Er atmete ihren wunderbaren Geruch; er prägte sich jedes Detail ihrer Gestalt ein. Andere Menschen – oberflächliche, gehetzte, gleichgültige Menschen, denen sein geschulter Blick fehlte – würden vielleicht über sie hinwegsehen und ihre Schönheit nicht wahrnehmen: Die feinen Züge, die helle Haut, das blonde, sanft gelockte Haar, die honigbraunen Augen, der weiche, lautlose Gang, die geschmeidigen Bewegungen. Sie hielt ihren Kopf etwas gesenkt, aber ihr Rücken war gestrafft. Über ihre nackten, blassen Unterarme zog sich eine Gänsehaut. Ihre Hände waren groß, schmal und zart. Keine hervortretenden Adern, keine raue Haut, keine Falten und Runzeln störten das fast durchsichtig erscheinende Alabaster. Sie war noch jung, blutjung, wahrscheinlich nicht mal zwanzig Jahre alt.
Sie ging stur geradeaus, blieb weder vor einem der Schaufenster stehen noch vor der Frau, die kleine Marionetten vor sich tanzen ließ und diese zum Verkauf anpries. Sie ließ sich auch nicht von einer Gruppe grölender Jugendlicher, die Zigaretten und Bierflaschen kreisen ließen, von ihrem Weg abbringen.
Er sah, wie ein Tropfen Bier auf ihre helle Bluse spritzte, und fühlte, wie in ihm Ärger über so viel Leichtsinn und Respektlosigkeit hochstieg.
Doch auch diesen konnte er unterdrücken, genauso wie das Bedürfnis, auf sie loszustürmen, sie anzusprechen, sie festzuhalten.
Was er nicht zurückhalten konnte, war der Aufschrei, als plötzlich ein Schatten auf ihn fiel. Eine Gestalt stellte sich ihm in den Weg, ebenso groß wie er, ebenso schlank und sehnig und – wie er wusste – ebenso stark.
Seine Augen weiteten sich, und für einige Sekunden war er wie gelähmt. Unbehagen, Abscheu und Hass kamen aus der Tiefe seiner Seele gekrochen. Alt waren diese Gefühle, uralt – und dennoch nicht gebrochen, sondern höchst lebendig. Sie schnürten ihm die Kehle zu.
»Du …!«, entfuhr es ihm heiser.
Ihr lieblicher Geruch verflüchtigte sich, ihr blonder Kopf ging in der Menge unter. Sie entfernte sich von ihm, und mit ihr schwand der Triumph, sie gefunden zu haben.
»Keinen Schritt weiter!«, drohte der andere finster.
»Sonst was?«, hielt er zischend dagegen.
Eine Hand fuhr an seine Kehle und drückte sie unbarmherzig zu. Eine warme Hand.
Oh, wie er sie hasste, diese Wärme! Sie erinnerte ihn daran, wie kalt sein eigener Leib war.
Unwirsch schlug er die Hand zurück, während sein Blick unmerklich zum Gürtel des anderen
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