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Der Kuss des Morgenlichts

Der Kuss des Morgenlichts

Titel: Der Kuss des Morgenlichts Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Leah Cohn
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unterrichtet!«, hatte ich empört gerufen. Woraufhin Nele nur noch mehr gegrinst und gemeint hatte: »War doch nur Spaß.«
    Ich konnte gar nicht anders, als Nathanael Grigori gebannt anzustarren, und in nur wenigen Sekunden prägte ich mir jedes Detail ein: die hohen Wangenknochen, die schmale, spitze Nase, die schön geschwungenen Brauen, die sich vom blassen Gesicht deutlich abhoben. Sein stufig geschnittenes, leicht gewelltes Haar war kinnlang und von einem dunklen, satten Braunton.
    Er blätterte in seinen Noten, während er das Cello mit seinem linken Knie abstützte.
    Ich schluckte. Vielleicht räusperte ich mich auch. Irgendein Geräusch musste ich verursacht haben, denn in diesem Moment sah er hoch. Suchend ging der Blick durch den Raum, als würde er erst jetzt bemerken, wo er war und wie viele Zuhörer sich um ihn geschart hatten. Schließlich blieb er an mir hängen. Eine Weile waren seine strahlend blauen Augen durchdringend auf mich gerichtet – ich glaube nicht, dass ich in diesem Augenblick geatmet habe –, dann senkte er rasch den Kopf. Eine Haarsträhne fiel ihm in die hohe, glatte Stirn.
    »Wir machen Schluss.« Er sprach leise, fast raunend.
    Der Klavierspieler wirkte überrascht – er hatte sein Taschentuch gerade wieder eingesteckt –, aber zugleich erleichtert.
    Nathanael sah nicht wieder hoch, während er das Cello behutsam einpackte und ein paar Male fast zärtlich darüberstreichelte, als wäre es ein lebendiges Wesen. Mit gesenktem Blick ging er schließlich auf die Tür zu. Die meisten anderen hatten sich unbemerkt zerstreut, ich hingegen stand immer noch an Hannes Seite, und während ich vorhin nicht darüber nachgedacht hatte, war es mir jetzt peinlich, dass wir beide als Einzige die Türschwelle überschritten hatten.
    Hatte Nathanael Grigori zu spielen aufgehört, weil er sich belästigt fühlte?
    Ich überlegte, ob ich mich entschuldigen oder ihm zumindest sagen sollte, wie sehr mich sein Spiel gefangen genommen hatte, aber mir fielen keine passenden Worte ein. Unmöglich, den Zauber seiner Musik zu beschreiben! Und galt als größte Auszeichnung für den Musiker schließlich nicht der Applaus, sondern atemlose Stille, die sich über den Konzertsaal senkt, kaum dass der letzte Ton verklungen ist?
    Als er sich mir näherte, fühlte ich, wie mir die Röte ins Gesicht stieg, und hoffte, dass er es nicht bemerken würde. Er blieb stehen, allerdings nicht meinetwegen, sondern weil Hanne ihm den Weg verstellte.
    »Hervorragend!«, rief sie begeistert.
    Anders als ich, hatte sie offenbar keine Angst vor Plattitüden oder davor, anmaßend zu wirken.
    Ich sah auf; so groß wie meine Scheu war die Neugierde zu sehen, welchen Eindruck Nathanael Grigori aus der Nähe machen würde. Ein schmales, halbherziges Lächeln erschien auf seinen Lippen, aber es erreichte seine Augen nicht. Diese wirkten nicht länger durchdringend, sondern kalt und abweisend. Sein Blick glitt von Hanne zu mir, dann wieder zu ihr. Er nickte knapp, ehe er wortlos an uns vorbeiging.
    Auch wenn er nichts Abfälliges gesagt hatte, fühlte ich mich bloßgestellt und wäre vor Scham am liebsten im Boden versunken. Hanne schien es ähnlich zu ergehen, aber sie reagierte nicht mit Verlegenheit, sondern mit Empörung.
    »Was für ein arroganter Typ!«, murrte sie und schüttelte ihr langes, glattes Haar. Ich folgte ihr schnell nach draußen.
    Zu meinem Erstaunen war Nathanael Grigori am Ende des langen, düsteren Gangs stehen geblieben und hatte sich noch einmal umgedreht. Diesmal sah er Hanne gar nicht erst an, sein Blick war gleich auf mich gerichtet, und er wirkte nicht länger kalt und abschätzend, sondern verwirrt.
    Ich hielt ihm nicht lange stand. Hastig verabschiedete ich mich von Hanne und lief regelrecht davon. Als ich meinen Überaum erreichte, brannten meine Wangen noch immer.

    Zwei Tage später sah ich Nathanael Grigori im MOZ , der Mensa des Mozarteums wieder. Als ich den düsteren Raum mit den vielen kleinen roten Tischen betrat, bemerkte ich ihn zunächst nicht, sondern nahm nur den Pianisten, der ihn das letzte Mal begleitet hatte, wahr. Er hatte seine Noten unter den Arm geklemmt und sich an der Theke einen Milchkaffee bestellt, und als er nun die Tasse entgegennahm, fiel der ganze Packen Papier auf den Boden. Anstatt sich zu bücken, stand er eine Weile ratlos da und balancierte die volle Tasse, als dürfte er sie nun, da er sie entgegengenommen hatte, nicht einfach wieder abstellen. So unbeholfen, wie er

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