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Der Landarzt (German Edition)

Der Landarzt (German Edition)

Titel: Der Landarzt (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Honoré de Balzac
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habe. Oft wollte sie sich ins Wasser stürzen, manchmal sich dem Nächstbesten an den Hals werfen; die meiste Zeit über schlief sie in der Sonne längs einer Mauer, düster, nachdenklich, den Kopf im Grase. Die Reisenden warfen ihr dann einige Sous zu, eben weil sie nichts verlangte. Ein Jahr lang ist sie im Hospital in Annecy gewesen, nach einer arbeitsreichen Ernte, in der sie nur in der Hoffnung zu sterben gearbeitet hatte. Man muß sie selber ihre Gefühle und ihre Gedanken während dieser Lebensperiode erzählen hören, oft ist sie recht merkwürdig in ihren naiven Geständnissen. Schließlich ist sie in der Zeit, wo ich mich entschloß, mich hier niederzulassen, in den Flecken zurückgekehrt. Ich wollte die Moral der von mir Verwalteten kennenlernen, studierte also auch ihren Charakter, der mich überraschte; nachdem ich dann ihre organischen Mängel beobachtet hatte, entschloß ich mich, für sie zu sorgen. Vielleicht wird sie sich mit der Zeit endlich an Näharbeit gewöhnen; doch habe ich auf alle Fälle ihr Los gesichert.«
    »Sie ist nicht allein dort!« sagte Genestas.
    »Nein; eine meiner Hirtinnen schläft bei ihr,« antwortete der Arzt. »Sie haben die Gebäulichkeiten meiner Meierei nicht gesehen, die oberhalb des Hauses stehen. Sie sind durch Fichten verdeckt. Oh, sie ist in Sicherheit. Uebrigens gibt's keine üblen Subjekte in unserem Tale; wenn ich zufällig auf solche stoße, schiebe ich sie zur Armee ab, wo sie ausgezeichnete Soldaten sind.« »Armes Mädchen!« sagte Genestas.
    »Ah! die Leute im Bezirk beklagen sie gar nicht,« erwiderte Benassis, »sie finden sie im Gegenteil recht glücklich; doch besteht der Unterschied zwischen ihr und den andern Weibern, daß Gott denen Kraft und ihr Schwäche verliehen hat; und sie sehen das nicht!«
    In dem Augenblick, wo die Reiter in die Grenobler Straße einbogen, machte Benassis, der die Wirkung dieses neuen Anblicks auf Genestas voraussah, mit befriedigter Miene halt, um sich an seiner Ueberraschung zu weiden. Zwei sechzig Fuß hohe Laubbahnen schmückten, so weit das Auge reichte, einen breiten, wie eine Gartenallee gewölbten Weg und bildeten ein natürliches Denkmal, das geschaffen zu haben, eines Menschen Stolz bilden konnte. Die nicht beschnittenen Bäume zeigten alle die ungeheure grüne Krone, welche die italienische Pappel zu einem der prächtigsten Gewächse macht. Eine Straßenseite, die bereits im Schatten lag, stellte eine unendliche Mauer aus dunklen Blättern dar, während die andere, stark belichtet durch den Sonnenuntergang, der den jungen Trieben Goldtinten verlieh, den Kontrast der Spiele und Reflexe zeigte, welche Licht und sanfter Wind auf ihrem bewegten Vorhange hervorriefen.
    »Sie müssen sehr glücklich hier sein,« rief Genestas. »Alles hier ist ein Vergnügen für Sie.«
    »Die Liebe zur Natur, mein Herr,« antwortete der Arzt, »ist die einzige, welche menschliche Hoffnungen nicht täuscht. Da gibt's keine Enttäuschungen. Das sind zehnjährige Pappeln. Haben Sie je welche gesehen, die so schön gekommen sind wie meine?«
    »Gott ist groß!« sagte der Offizier, in der Mitte der Straße, von der er weder Anfang noch Ende entdeckte, haltmachend.
    »Sie erweisen mir eine Wohltat!« rief Benassis. »Mit Vergnügen höre ich Sie wiederholen, was ich oft inmitten dieser Allee gesagt habe. Sicherlich waltet hier etwas Religiöses. Wir sind hier wie zwei Punkte, und das Gefühl unserer Kleinheit führt uns immer zu Gott zurück.«
    Sie ritten nun langsam und schweigend einher und horchten auf den Tritt ihrer Pferde, der in dieser Laubgalerie widerhallte, wie wenn sie unter einem Domgewölbe gewesen wären.
    »Wie viele Gemütsbewegungen gibt es doch, von denen die Stadtleute gar keine Ahnung haben!« sagte der Arzt. »Riechen Sie den Duft, den das Bienenharz der Pappeln und die Ausschwitzungen der Lärchenbäume ausströmen? Welche Köstlichkeiten!«
    »Horchen Sie!« rief Genestas. »Halten wir!«
    Da hörten sie in der Ferne Gesang.
    »Ist's eine Frau oder ein Mann? Ist's ein Vogel?« fragte der Major ganz leise. Ist's die Stimme dieser großen Landschaft?«
    »Von alledem etwas,« antwortete der Arzt, der von seinem Pferde stieg und es an einen Pappelzweig band. Dann gab er dem Offizier ein Zeichen, ihn nachzuahmen und ihm zu folgen. Mit langsamen Schritten gingen sie einen Saumpfad entlang, der von zwei in Blüte stehenden Weißdornhecken, die in der feuchten Abendluft betäubende Düfte ausströmten, umsäumt wurde. Die

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