Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Club der Gerechten

Der Club der Gerechten

Titel: Der Club der Gerechten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Saul
Vom Netzwerk:
Prolog
     
    Die Zeit hatte endgültig ihre Bedeutung verloren.
    Wochen konnten vergangen sein. Oder Monate.
    Aber nicht Tage, denn die Erinnerungen an sein früheres Leben verblassten in dem Nebel, der in seinem Kopf wogte. Jahre jedoch auch nicht, denn die Erinnerungen hatten noch Form und Struktur, Farbe und Geruch.
    Ein Baum.
    Nicht irgendein Baum – der Nussbaum hinter dem Haus, in dem er aufgewachsen war. Dem kleinen Jungen war der Baum riesengroß vorgekommen, die niedrigsten Äste so weit oben, dass sein Daddy ihn hochheben musste, damit er sie anfassen konnte. Als er groß genug war, kletterte er den Stamm mit der rauen Rinde hinauf und hinein in den weit gespannten Baldachin – einmal hatte er sogar ein Baumhaus gebaut, wo er sich an trägen Sommernachmittagen verstecken konnte. Die Sonne fiel gefiltert durch das Laubgewölbe, und die ganze Welt schien in hellstem Grün zu flimmern.
    In der Zypressenhecke, die den Hof umgab, ließen sich, wenn die Sonne unterging, ein paar hundert Spatzen mit fast unhörbarem Rascheln zum Schlafen nieder, bis sein Hund – eine kleine schwarze Töle namens Cinder – anfing hin und her zu rennen und mit schrillem Gekläff die Stille zu zerstören. Wie von einem Windstoß durcheinander gewirbeltes Herbstlaub stoben die Vögel aus der Hecke zum Himmel auf, hoben sich wie gemalt vom dunkelnden Blau ab, fielen dann langsam zurück und wurden im nächsten Augenblick wieder aufgejagt.
    Das waren seine lebhaftesten Erinnerungen, denn sie waren die ältesten, und obwohl er nicht alt war, spielte ihm sein Gehirn schon Streiche wie bei alten Leuten. Warum erinnerte er sich so deutlich an diesen Baum, nahezu zwanzig Jahren zurück, erinnerte sich jedoch kaum an das letzte Zimmer, in dem er gewohnt hatte?
    Vielleicht, weil er sich an dieses Zimmer nicht erinnern wollte?
    Er blieb in der Dunkelheit stehen, die ihn jetzt umgab, und in seinem Kopf tauchten undeutliche Konturen auf. Ein winziges Zimmer, beinahe ausgefüllt von einem einzigen durchgelegenen Bett, einem Metalltisch mit abgestoßener Emailplatte. Die Stufen, die in das Zimmer führten, stanken nach Urin; ein Geruch, der zum Teil überlagert wurde von dem nach schalem Zigarettenrauch. Das hatte ihm kein Kopfzerbrechen bereitet – er hatte schon früher in solchen Zimmern gehaust. Dann verließ er eines Tages das Zimmer auf Nimmerwiedersehen. Es war ihm egal – er konnte die Miete sowieso nicht bezahlen, und der Mistkerl von Vermieter, der in der verdreckten Souterrainwohnung hauste, hätte in ein, zwei Tagen wahrscheinlich die Schlösser ausgetauscht.
    Danach gab es nicht mehr viel, an das er sich erinnerte.
    Er war eine Zeit lang durch die Straßen gewandert, und das war gar nicht so übel gewesen. Wenigstens brauchte er kein Geld für Miete rauszuwerfen. Aber dann wurde es allmählich kalt, und ein-oder zweimal hatte er in einer Unterkunft Schutz gesucht. Nicht draußen auf der Insel – wie zum Henker hieß sie doch gleich? Wie irgendein Kaufhaus aus einer längst vergangenen Zeit.
    Wards. Das war's – Wards Island.
    Da hinaus wollte er nicht. Obwohl es dort kaum schlimmer sein konnte als an einigen Orten, die er gesehen hatte, seit er Big Ted in die Unterwelt der Grand Central Station gefolgt war.
    Sie hatten im Untergeschoss bei einer Imbissbude herumgelungert, als zwei Transit Cops anfingen sie merkwürdig zu mustern.
    »Komm mit«, murmelte Big Ted, und er war hinter ihm hergetrottet – hinunter auf den Bahnsteig bei Gleis zwei.
    Auf der gegenüberliegenden Seite gab es ein merkwürdiges Durcheinander aus Mauern und Rohren und Leitern. Die Hälfte der Mauern schien eingestürzt, und die meisten Leitern sahen so aus, als führten sie nirgendwohin. Big Ted sprang vom Bahnsteig aufs Gleis, überquerte es und stieg auf der anderen Seite eine Leiter hinauf. Er selbst zögerte zuerst, dann hörte er jemand etwas schreien und wartete nicht mehr ab, wollte nicht wissen, was sie wollten. Rasch folgte er Ted über das Gleis und die Leiter hinauf und war gerade noch imstande, sich festzuhalten, als der Mann vor ihm bückend durch eine Tür schlüpfte.
    Ted führte ihn durch mehrere Räume, kletterte dann ein paar Rohre hinauf und arbeitete sich in die Dunkelheit vor. Hinter ihnen wurde noch immer geschrien, und das trieb ihn weiter, hinter Big Ted her.
    Anfangs war es irgendwie lustig – eine Art Abenteuer. Er wollte ein paar Tage mit Big Ted herumziehen und dann woanders hingehen. Vielleicht sogar weg aus der Stadt. Aber

Weitere Kostenlose Bücher