Der lange Weg nach Hause - The Long Road Home
stieß sie das Kind von sich. Gabriella schlitterte hilflos über den blank polierten Boden, verlor das Gleichgewicht und stürzte. In blinder Raserei trat ein hochhackiger Schuh aus blauem Wildleder gegen einen zitternden dünnen Schenkel. An den Gliedmaßen entstanden stets die schlimmsten Schürfwunden und blauen Flecken – an unsichtbaren Stellen. Die Spuren im Gesicht verschwanden schon nach wenigen Stunden – als wüsste die Mutter instinktiv, wie sie ihre Tochter züchtigen musste. Darin hatte sie genug Übung. Seit das Kind denken konnte, wurde es misshandelt.
Während Gabriella am Boden lag, hörte sie kein einziges reumütiges, tröstendes, beruhigendes Wort, keine Entschuldigung. Wenn sie zu früh aufstand, drohten ihr weitere Schläge. Das wusste sie. Und so verharrte sie reglos, den Kopf gesenkt, die Wangen tränennass, von Schmerzen gepeinigt. Jetzt durfte sie nicht aufblicken, sonst würde sie die Mutter erneut in Wut bringen. Deshalb starrte sie nach unten und wünschte, sie könnte sich in nichts auflösen.
»Steh auf! Worauf wartest du?« Den scharfen Worten folgten ein harter Griff, der ihren Arm umspannte, und ein letzter Fausthieb gegen die Schläfe. »O Gott, Gabriella, ich hasse dich, du verdammtes Balg! Wie du aussiehst! So schmutzig!«
Über das engelsgleiche Gesichtchen rannen Tränen. Dieser Anblick hätte jedes halbwegs menschliche Gemüt rühren müssen. Aber Eloise Harrison entstammte einer anderen Welt und kannte keine mütterlichen Gefühle.
Als kleines Kind von den Eltern verlassen, war sie bei einer Verwandten in Minnesota aufgewachsen, in kalter Einsamkeit. Die altjüngferliche Tante sprach kaum mit ihr. An frostigen Wintertagen musste das Kind Schnee schaufeln und Brennholz ins Haus schleppen. Infolge der amerikanischen Depression hatten die Eltern einen Großteil ihres Geldes verloren und mit dem armseligen Rest ein neues Leben in Europa begonnen. Für Eloise fand sich dort kein Platz, auch nicht in ihren Herzen. Der Sohn war an Diphtherie gestorben, die Tochter hatten sie niemals geliebt. Und so blieb sie bis zu ihrem achtzehnten Geburtstag bei der Tante. Dann kehrte sie nach New York zurück und wohnte bei ihren Kusinen. Mit zwanzig sah sie John Harrison wieder, und zwei Jahre später wurde sie seine Frau. Da er ein Freund ihres Bruders gewesen war, hatte sie ihn schon in der Kindheit gekannt. Seine Eltern, vom Schicksal besser behandelt als ihre, besaßen trotz der Depression immer noch ihr gesamtes Vermögen. Aus guter Familie, kultiviert und gebildet, aber weder sonderlich ambitioniert noch charakterfest, bekam John einen Job in einer Bank. Kurz danach begegnete er Eloise, und ihre Schönheit faszinierte ihn.
Damals, in ihrer Jugend, hatte sie bezaubernd ausgesehen, und ihre kühle Zurückhaltung brachte ihn fast um den Verstand. Er machte ihr den Hof, flehte verzweifelt, sie möge ihn heiraten, und je eifriger er sie umwarb, desto unbarmherziger wies sie ihn ab. Es dauerte fast zwei Jahre, bis sie ihn endlich erhörte. Er hatte ein wunderbares Haus für sie gekauft, und er wünschte sich Kinder. Voller Stolz stellte er seine Frau allen Freunden und Bekannten vor. Aber er konnte sie erst nach zwei weiteren Jahren zur Mutterschaft überreden. Sie erklärte, sie würde mehr Zeit brauchen. Und im Grunde wollte sie kein Baby, nachdem ihre Kindheit so leidvoll gewesen war. Nur ihrem Mann zuliebe gab sie sich geschlagen, was sie sehr bald bereute. Während der komplizierten Schwangerschaft musste sie sich täglich übergeben, fast bis zum bitteren Ende, und die Geburt war ein Albtraum, den sie niemals wiederholen wollte, den sie nie vergessen würde. Obwohl man ihr am nächsten Tag ein niedliches, rosiges Baby in den Arm legte, fand sie, die Qualen hätten sich nicht gelohnt. Und es ärgerte sie von Anfang an, wie viel Aufmerksamkeit John seiner kleinen Tochter schenkte. Früher hatte er diese innige Liebe seiner Frau bewiesen, und jetzt schien er nur mehr an Gabriella zu denken. War ihr auch wirklich warm? Fror sie? Aß sie genug? Hatte ihre Mommy sie gewickelt? Wie bezaubernd das Baby lächelte ... Und wie ähnlich Gabriella seiner Mutter sah ... Dieses Getue zerrte immer heftiger an Eloises Nerven. Jedes Mal, wenn sie das Kind anschaute, hätte sie am liebsten geschrien.
Schon nach kurzer Zeit führte sie wieder ihr gewohntes Leben, ging einkaufen, traf ihre Freundinnen zum Lunch und besuchte Teepartys. Jeden Abend wollte sie ausgehen. Für ihr Baby interessierte sie
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