Der lange Weg nach Hause - The Long Road Home
Nacht hereinkommen.
Und so blieb Gabriella einsam und verlassen und scheinbar vergessen zurück. Während er das eheliche Schlafzimmer aufsuchte, dachte er über die Ungerechtigkeit des Lebens nach, über das schreckliche Schicksal, das seine Tochter erlitt. Aber wie sollte er sie retten? Er stand seiner Frau genauso hilflos gegenüber wie das Kind. Und deshalb verabscheute er sich selbst abgrundtief.
2
Kurz nach acht betraten die Gäste das Haus in der East Sixty-ninth Street – New Yorker Schickeria, ein russischer Fürst mit einer jungen Engländerin und Eloises Bridge-Freundinnen. Auch der Direktor der Bank, in der John Harrison arbeitete, war mit seiner Frau erschienen. Kellner in Dinnerjackets servierten Champagner auf Silbertabletts. Unbemerkt kauerte Gabriella am Treppenabsatz und beobachtete die Ereignisse. Sie schaute sehr gern zu, wenn ihre Eltern eine Party gaben.
In ihrem schwarzen Satinkleid sah die Mutter bildschön aus, und der Vater wirkte elegant und attraktiv in einem gut geschnittenen Smoking. Als die Frauen in die Halle kamen, schimmerten ihre Kleider, und die Juwelen funkelten im Kerzenlicht. Champagnergläser in den Händen, schienen die Gäste inmitten der sanften Musik und des Stimmengewirrs zu schweben. Eloise und John liebten solche Feten. In letzter Zeit luden sie ihre Freunde etwas seltener ein. Aber hin und wieder veranstalteten sie doch noch diese luxuriösen Feste, und Gabriella genoss es, die Ankunft der Gäste mitzuerleben und später, wenn sie im Bett lag, der Tanzmusik zu lauschen.
So wie in jedem September wurde die New Yorker Gesellschaftssaison eröffnet. Das kleine Mädchen war soeben sieben Jahre alt geworden. An diesem Abend fand die Party ohne besonderen Anlass statt – eine Versammlung von Freunden, die Gabriella teilweise wiedererkannte. Sie entdeckte einige, die sie mochte, die nett zu ihr waren, wenn sie ihr begegneten. Doch das geschah nicht oft. Den Freunden ihrer Eltern wurde sie nur selten vorgestellt, und niemand machte ihretwegen ein Aufhebens. Sie war einfach da und versteckte sich im Oberstock, von den meisten Leuten bald wieder vergessen. Nach Eloises Ansicht mussten Kinder auf Partys unsichtbar bleiben. Für sie spielte die Existenz ihrer Tochter ja ohnehin keine Rolle. Manchmal erkundigte sich jemand nach Gabriella, meistens im Bridge-Club. Solche Fragen fegte Eloise mit einer zwanglosen Geste beiseite wie lästige Insekten. Daheim gab es keine Fotos von Gabriella, aber sehr viele von ihren Eltern in silbernen Rahmen. Die Tochter wurde nicht fotografiert, da eine Dokumentation ihrer Kindheit weder Eloise noch John interessierte.
Lächelnd sah Gabriella eine hübsche Blondine durch die Halle gehen. Marianne Marks trug ein weißes Chiffonkleid, das sie bei jedem Schritt umflatterte. Angeregt unterhielt sie sich mit ihrem Mann. Sie zählte zu den engsten Freundinnen der Eltern, und ihr Ehemann arbeitete mit John zusammen. Nachdem sie ein Champagnerglas von einem Tablett genommen hatte, schien sie Gabriellas Blick zu spüren, denn sie schaute plötzlich nach oben. Da entdeckte sie das Kind und blieb stehen. Ein sonderbares Licht erhellte ihr Gesicht. Im Kerzenschimmer entstand der Eindruck, eine Gloriole würde ihren Kopf umgeben. Dann sah Gabriella die kleine Diamantentiara, die den Glanz ausstrahlte und der jungen Frau die Aura einer Märchenfee verlieh.
»Was machst du da oben, Gabriella?« Mariannes Stimme klang sanft und freundlich. Lächelnd winkte sie dem Kind zu, das in einem rosa Flanellnachthemd auf der obersten Stufe hockte.
»Pst ...« Besorgt legte Gabriella einen Finger an die Lippen. Wenn die Eltern erfuhren, dass sie hier saß, würde sie in schreckliche Schwierigkeiten geraten.
»Oh ...« Marianne verstand sofort, was das kleine Mädchen meinte. Leichtfüßig und lautlos lief sie in ihren hochhackigen weißen Satinsandalen die Treppe hinauf. Ihr Mann wartete in der Halle und sah belustigt, wie sie miteinander tuschelten. »Beobachtest du die Ankunft der Gäste?«, flüsterte Marianne, und Gabriella nickte.
»Wie schön Sie sind ...«, wisperte sie ehrfürchtig. Im Gegensatz zur ihrer Mommy hatte diese Märchenfee blondes Haar und blaue Augen, so wie Gabriella selbst. Und Mariannes Lächeln schien alles ringsum zu beleuchten. Beinahe glich sie einer magischen Vision. Nicht zum ersten Mal fragte sich Gabriella, warum sie keine solche Mutter hatte. Im gleichen Alter wie Eloise, erklärte Marianne immer wieder, wie gern sie Kinder bekäme.
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