Der lange Weg zur Freiheit
seiner aus und erklärte: »Ich bin stolz, Ihre Hand zu halten, damit wir voranschreiten können.« Mr. de Klerk schien überrascht, aber auch erfreut.
Ich wählte am 27. April, dem zweiten der vier Wahltage, und zog es vor, in Natal zu wählen, um den Menschen jener geteilten Provinz zu zeigen, daß man gefahrlos zu den Wahllokalen gehen konnte. Ich wählte in der Ohlange-High-School in Inanda, einer grünen, hügeligen Township unmittelbar nördlich von Durban, denn dort lag John Dube, der erste ANC-Präsident, begraben.
Dieser afrikanische Patriot hatte bei der Gründung der Organisation 1912 mitgeholfen, und mit meiner Stimmabgabe nahe seiner Grabstätte schloß sich der Kreis der Geschichte, denn die von ihm 82 Jahre zuvor eingeleitete Mission ging ihrer Vollendung entgegen.
Als ich vor seinem Grab stand, auf einer Anhöhe über der kleinen Schule, dachte ich nicht an die Gegenwart, sondern an die Vergangenheit. Als ich zum Wahllokal ging, weilte mein Geist bei den Heroen, die gefallen waren, damit ich dort sein konnte, wo ich an jenem Tag war, weilte bei den Männern und Frauen, die das höchste Opfer für eine Sache gebracht hatten, die jetzt endlich ans Ziel gelangt war. Ich dachte an Oliver Tambo, an Chris Hani, an Häuptling Luthuli, an Bram Fischer. Ich dachte an unsere großen afrikanischen Patrioten, die sich aufgeopfert hätten, damit an diesem Tag Millionen von Südafrikanern ihre Stimme abgeben konnten; ich dachte an Josiah Gumede, G. M. Naicker, Dr. Abdullah Abdurahman, Lilian Ngoyi, Helen Joseph, Yusuf Dadoo, Moses Kotane. Ich ging am 27. April nicht allein in das Wahllokal; ich gab meine Stimme gemeinsam mit ihnen allen ab.
Bevor ich das Lokal betrat, rief mir ein Witzbold von Pressevertreter zu: »Mr. Mandela, für wen stimmen Sie?« Ich lachte. »Wissen Sie«, erwiderte ich, »ich habe darüber den ganzen Morgen verzweifelt nachgedacht.« Ich machte mein X in das Kästchen bei den Buchstaben ANC und ließ dann meinen gefalteten Wahlzettel in eine simple Holzkiste fallen; ich hatte zum erstenmal in meinem Leben gewählt.
Die Bilder der Südafrikaner, die an jenem Tag zur Wahlurne gingen, sind in mein Gedächtnis eingebrannt. Lange Schlangen von geduldigen Menschen, die sich durch die schmutzigen Straßen und Gassen von Dörfern und Städten wanden; alte Frauen, die ein halbes Jahrhundert gewartet hatten, ehe sie zum erstenmal ihre Stimme abgeben konnten, und die erklärten, zum erstenmal in ihrem Leben fühlten sie sich als Menschen; weiße Männer und Frauen, die erklärten, sie seien stolz, doch noch in einem freien Land zu leben. Die Stimmung der Nation während jener Wahltage war erhebend. Gewalttätigkeiten und Bombenanschläge waren eingestellt, und es war, als ob die Nation neugeboren wäre. Selbst die logistischen Schwierigkeiten der Wahl, die falsch aufgestellten Wahlurnen, die wilden Stimmlokale und die Gerüchte über Betrügereien an bestimmten Orten konnten den überwältigenden Sieg von Demokratie und Gerechtigkeit nicht schmälern.
Die Auszählung der Stimmen nahm mehrere Tage in Anspruch. Wir erzielten 62,6 Prozent der Stimmen, knapp unter der Zweidrittelmehrheit, die notwendig gewesen wäre, wenn wir es darauf angelegt hätten, ohne Unterstützung anderer Parteien eine letztgültige Verfassung durchzudrücken. Unser Prozentsatz reichte für 252 der 400 Sitze in der Nationalversammlung. Der ANC lag weit an der Spitze im nördlichen und östlichen Transvaal, im Nordwesten, am östlichen Kap und im Freistaat. Wir erzielten 33 Prozent der Stimmen am westlichen Kap, das die National Party mit extrem großem Anteil unter den farbigen Wählern gewann. Wir bekamen in KwaZulu/Natal 32 Prozent der Stimmen, in einem Wahlbezirk, in dem die Inkatha vorn lag. In Natal blieben viele unserer Wähler aus Angst vor Gewalt und Einschüchterung zu Hause. Auch soll es zu Wahlbetrug und Wahlbeeinflussung gekommen sein. Doch am Ende spielte das keine Rolle. Wir hatten die Stärke der Inkatha in KwaZulu unterschätzt, eine Stärke, die sie am Wahltag demonstrierte.
Einige ANC-Anhänger waren enttäuscht darüber, daß wir die Zweidrittelmehrheit nicht erreicht hatten, doch ich gehörte nicht zu den Enttäuschten. Vielmehr war ich erleichtert, denn wenn wir zwei Drittel der Stimmen auf uns vereinigt hätten und in der Lage gewesen wären, ohne Mitwirkung anderer eine Verfassung durchzusetzen, hätten die Leute argumentiert, wir hätten eine ANC-Verfassung geschaffen und nicht eine
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