Die Kastratin
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Erster Teil
Die Verwandlung
I .
I hre Wangen brannten von den Ohrfeigen ihrer Mutter, und in ihren Augen standen Tränen. Dennoch warf Giulia den Kopf in den Nacken und schob trotzig ihr Kinn vor. Nie, niemals würde sie verstehen, warum es Sünde sein sollte, die Lieder zu singen, die der Knabenchor oben in der Abtei fleißig einübte.
Meist war sie vorsichtig und sang nur, wenn sie sich allein wähnte oder ihr Vater es ausdrücklich erlaubte. An diesem Morgen jedoch waren ihr ein paar Takte jener wunderbaren Melodie über die Lippen gekommen, die sie beim letzten ihrer heimlichen Ausflüge erlauscht hatte und die seitdem wie ein Echo in ihrem Kopf widerhallte. Sie hatte geglaubt, niemand würde sie hören, da ihre Mutter schon seit Tagen krank im Bett lag. Zu ihrem Pech war die Mutter gerade hinter ihr aus der Tür getreten und hatte alles mit angehört.
Zur Strafe musste Giulia anstelle der Magd die Wäsche auf den Bleichanger tragen und dort ausbreiten. Der schwere Korb zerrte so an ihren Armen, dass sie ihn am liebsten fallen gelassen hätte. Doch sie dachte an das Strafgericht, das ihre Mutter auf sie niederprasseln lassen würde, und schleppte die Last, die für ein Mädchen von elf Jahren viel zu schwer war, weiter die schmale Treppengasse hinab, vorbei an den kleinen, aus Bruchsteinen errichteten Häusern, aus denen es sauer roch.
Sie sehnte Assumpta herbei, die die Wäsche gern selbst zum Bleichanger getragen hätte. Mehr als einmal hatte die alte Magd ihrer Mutter Vorhaltungen gemacht, weil diese ihrem Kind viel zu schwere Lasten aufbürdete. Die Mutter war jedoch der Meinung, sie könne ihrer Tochter nur mit harter Arbeit das Singen abgewöhnen und sie auf den Pfad der Tugend zurückführen. Giulia verstand ihre Mutter nicht, denn sie fühlte sich so unschuldig wie ein Engel im Himmel. Was konnte sie dafür, dass die Lieder, die die Chorknaben so mühsam einstudierten, in ihrem Gedächtnis haften blieben, selbst wenn sie sie nur ein einziges Mal gehört hatte?
Als sie die Piazza Vendetti erreichte, drehte sie sich um und blickte sehnsüchtig zum Kloster des heiligen Ippolito hoch, das majestätisch auf dem mit Olivenbäumen bewachsenen Hügel thronte. Es war ihr, als könne sie die Stimmen der Sängerknaben vernehmen, die um diese Stunde dort oben probten. Am liebsten wäre sie auf der Stelle hochgelaufen, hätte sich in ihr Versteck bei dem kleinen Fenster gedrückt und den Übungen zugehört. Unwillkürlich fragte sie sich, ob schon das Belauschen der Sänger eine Sünde war.
Nach kurzer Überlegung tat sie den Gedanken ab. Die Chorknaben von Saletto sangen jeden Sonntag in der Kirche, und da musste sie ihnen ja zuhören. Die sonntäglichen Lieder hätte sie alle im Schlaf singen können, so langweilten sie sie. Viel interessanter war es, zu verfolgen, wie die Jungen die neue Messe einstudierten, die sie am Festtag des Namenspatrons singen sollten. Giulia träumte sogar schon von den ersten Strophen des Soloparts, den Ludovico vortragen würde, und sie ertappte sich auch jetzt wieder dabei, wie sie die ersten Takte vor sich hin summte.
Sofort presste sie die Lippen zusammen und sah sich um. Es gab genügend Nachbarinnen, die ihrer Mutter hinterbringen würden, dass sie nicht die Kinderlieder trällerte, die Mädchen wie ihr gerade noch erlaubt waren, sondern wieder jene Melodien von sich gab, die nur von Knaben und Männern zum allerhöchsten Ruhme Gottes intoniert werden durften.
»Es ist eine Gemeinheit, dass ich ein Mädchen und kein Junge bin«, schimpfte sie leise vor sich hin. »Immer heißt es, das schickt sich nicht, und jenes darfst du nicht …« Wütend stapfte sie weiter, bis das Gewicht des Korbes sie zwang, ihn auf einem Mauervorsprung abzusetzen.
In dem Moment tauchte die alte Nachbarin Lodrina neben ihr auf. Mit ihrer schwarzen Witwenkleidung und ihren nickenden Bewegungen ähnelte sie einem Raben, zumal ihre Nase wie ein scharfer Schnabel vorstieß. Sie grüßte Giulia mit hinterhältiger Freundlichkeit und entblößte dabei ihre gelben Zahnstummel. »Du bringst das Leinen zum Bleichen? Das ist aber brav von dir.«
»Ich muss mich sputen, Lodrina. Ich bin schon spät dran.« Giulia holte tief Luft, hob den Korb an und schleppte ihn schnell weiter, bevor die Frau ihr ein Gespräch aufdrängen konnte. Sie mochte Lodrina nicht, denn die Alte schlich sich oft lautlos an sie heran, und wenn sie Giulia singen hörte, verpetzte sie sie bei ihrer Mutter. Die beiden
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