Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der langsame Walzer der Schildkroeten

Der langsame Walzer der Schildkroeten

Titel: Der langsame Walzer der Schildkroeten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Katherine Pancol
Vom Netzwerk:
junior. Ich sollte Marcel mal wieder anrufen, dachte Joséphine, die für ihren Stiefvater größere Zuneigung empfand als für ihre Mutter.
    Die Äste der Bäume wiegten sich in einer bedrohlichen Choreografie. Einem Totentanz gleich: lange schwarze Äste wie zerlumpte Hexenkleider. Sie erschauerte. Ein Windstoß trieb ihr eiskalten Regen ins Gesicht, ihre Augen tränten. Sie sah nichts mehr. Nur eine der drei Straßenlaternen entlang des Parkwegs brannte. Ein weißer, von Regenstriemen durchzogener Lichtstrahl stieg in den Himmel auf. Joséphine bemühte sich, ihm nachzublicken, bis er sich in der Dunkelheit verlor.
    Sie bemerkte den Schatten nicht, der sich von hinten an sie heranschlich.
    Sie hörte die eiligen Schritte des Mannes nicht, der sich ihr näherte.
    Plötzlich spürte sie, wie sie nach hinten gerissen wurde, wie ein Arm ihren Brustkorb zusammenpresste und eine Hand ihr den Mund zuhielt, während die andere mehrmals auf ihr Herz einstach. Sie dachte, dass ihr jemand das Paket rauben wolle. Sie schaffte es, mit dem linken Arm Antoines Paket festzuhalten, schlug um sich und wehrte sich mit aller Kraft, doch sie bekam keine Luft mehr. Sie drohte zu ersticken, röchelte, sackte schließlich zu Boden und ließ alles fallen. Sie konnte gerade noch die glatten Sohlen der Straßenschuhe erkennen, die auf sie eintraten. Sie schützte sich mit beiden Armen und rollte sich zu einer Kugel zusammen. Das Paket rutschte weg. Der Mann zischte Beschimpfungen, Schlampe, elendes Miststück, blöde Fotze, du spuckst keine großen Töne mehr, du machst dich nicht mehr wichtig, du miese Nutte, jetzt stopf ich dir endgültig das Maul, du blöde Fotze! Er überschüttete sie mit Obszönitäten und trat immer heftiger auf sie ein. Joséphine schloss die Augen. Rührte sich nicht. Ein Blutfaden lief ihr aus dem Mund, die Schuhsohlen entfernten sich, und sie blieb auf dem Boden liegen.
    Sie wartete lange, ehe sie sich aufrichtete, sich auf Händen und Knien abstützte und aufstand. Rang nach Luft. Atmete gierig ein. Bemerkte, dass ihr Blut aus dem Mund und über die linke Hand lief. Stolperte über das Paket, das auf dem Boden lag. Hob es auf. Die Oberseite war zerfetzt. Antoine hat mich gerettet, war ihr erster Gedanke. Wenn ich das Paket nicht an meinem Herzen getragen hätte, dieses Paket mit den letzten Erinnerungsstücken an meinen Mann, dem Turnschuh mit der dicken Sohle, wäre ich jetzt tot. Die mittelalterliche Schutzfunktion von Reliquien kam ihr in den Sinn. In einem Medaillon oder einer ledernen Börse trug man stets ein Stück vom Kleid der heiligen Agnes, ein Streifchen von der Schuhsohle des heiligen Benedikt bei sich, dann stand man unter ihrem Schutz. Sie berührte mit den Lippen das Packpapier und dankte dem heiligen Antoine.
    Sie tastete ihren Bauch, ihre Brust, ihren Hals ab. Sie war unverletzt. Plötzlich spürte sie einen brennenden Schmerz an der linken Hand: Sie hatte mehrere tiefe, stark blutende Schnitte auf dem Handrücken.
    Vor Schreck versagten ihr die Beine. Sie verkroch sich hinter einem dicken Baum, lehnte sich gegen die feuchte, raue Rinde und versuchte, wieder zu sich zu kommen. Ihre größte Sorge galt Zoé. Ihr nichts davon sagen, ihr auf keinen Fall etwas davon sagen. Sie würde es nicht ertragen, ihre Mutter in Gefahr zu wissen. Es war ein Zufall, er hatte es gar nicht auf mich abgesehen, das war ein Verrückter, er wollte nicht mich umbringen, nicht mich, wer sollte mich so sehr hassen, dass er mich umbringen wollte, ein Verrückter. Die Worte drängten sich in ihrem Kopf. Sie richtete sich auf, vergewisserte sich, dass sie stehen konnte, und ging auf die große lackierte Holztür ihres Hauses zu.
    Auf dem Flurtischchen hatte Zoé eine Nachricht für sie hinterlassen: »Liebste Maman, ich bin im Keller bei Paul, einem Nachbarn. Ich glaube, ich habe einen neuen Freund gefunden.«
    Joséphine ging in ihr Schlafzimmer und schloss die Tür. Atemlos schlüpfte sie aus dem Mantel, warf ihn aufs Bett, zog ihren Pullover, ihren Rock aus, bemerkte eine Blutspur am Mantelärmel und zwei lange senkrechte Risse auf der linken Brustpartie, rollte den Mantel zu einer Kugel zusammen, holte einen großen Müllsack, stopfte alle ihre Kleider hinein und warf ihn in ihren Kleiderschrank. Sie würde ihn später wegwerfen. Sie untersuchte ihre Arme, ihre Beine, ihre Oberschenkel. Keine Verletzung zu sehen. Sie ging ins Bad, um zu duschen. Als sie vor dem großen Spiegel über dem Waschbecken vorbeikam, hob sie

Weitere Kostenlose Bücher