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Der langsame Walzer der Schildkroeten

Der langsame Walzer der Schildkroeten

Titel: Der langsame Walzer der Schildkroeten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Katherine Pancol
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spürte, wie sie allmählich ruhiger wurde. Paul, selbstsicher und mit einer Meinung zu allem und jedem, und Zoé am Rande der Verzweiflung, weil es ihr nicht gelang, seine Aufmerksamkeit zu fesseln. Ihr Gesicht war angespannt, sie presste die Lippen zu einem verzweifelten Schmollmund zusammen. Joséphine konnte förmlich hören, wie sie im Geiste nach etwas suchte, was sie in den Augen des Jungen interessant wirken ließe. Zwar war sie während des Sommers ein gutes Stück gewachsen, aber ihr Körper verharrte noch immer in den weichen, molligen Rundungen der Kindheit.
    »Spielst du uns mal was vor?«, bat Zoé, als ihr nichts einfiel, womit sie ihn betören könnte.
    »Das ist jetzt nicht unbedingt der passende Moment«, wandte Joséphine ein und schaute demonstrativ in Richtung des Nachbarkellers. »Vielleicht ein andermal …«
    »Hmm …«, murmelte Zoé enttäuscht.
    Sie gab sich geschlagen und zeichnete mit der Schuhspitze Kreise auf den Boden.
    »Für uns wird es jetzt Zeit zum Essen«, fügte Joséphine hinzu, »und Paul geht sicher auch bald wieder nach oben…«
    »Ich habe schon gegessen.« Er krempelte die Ärmel hoch, griff nach den Trommelstöcken, fuhr sich mit einer Hand durchs Haar und begann aufzuräumen. »Können Sie bitte die Tür hinter sich zumachen?«
    »Tschüss, Paul!«, rief Zoé. »Bis bald.«
    Sie winkte verhalten, eine gleichermaßen schüchterne wie tapfere Geste, die ihm zu verstehen geben sollte, ich fände es schön, wenn wir uns wiedersähen … natürlich nur, wenn du das auch willst.
    Er machte sich nicht die Mühe, zu antworten. Er war erst fünfzehn Jahre alt und hatte nicht die Absicht, sich von einem kleinen Mädchen blenden zu lassen. Er war in jenem heiklen Alter, in dem man einen Körper bewohnt, den man nicht besonders gut kennt, und in dem man, um das Gesicht zu wahren, manchmal grausam sein kann, ohne es zu wollen. Die Beiläufigkeit, mit der er Zoé behandelte, verriet, dass er der Stärkere zu sein gedachte und dass, falls es ein Opfer geben sollte, Zoé dies sein würde.
    Der elegante Mann im grauen Anzug wartete vor dem Aufzug. Er trat einen Schritt zur Seite, um ihnen den Vortritt zu lassen. Fragte sie, in welchen Stock sie fuhren, und drückte auf den Knopf mit der Nummer 5. Dann drückte er die Nummer 4.
    »Sie sind also die Neuen …«
    Joséphine nickte.
    »Willkommen in unserem Haus. Wenn ich mich vorstellen darf: Hervé Lefloc-Pignel. Ich wohne im vierten Stock.«
    »Joséphine Cortès, und das ist meine Tochter Zoé. Wir wohnen im fünften Stock. Ich habe noch eine zweite Tochter, Hortense, sie lebt in London.«
    »Ich hätte gern die Wohnung im fünften Stock gehabt, aber sie war nicht frei, als wir eingezogen sind. Ein älteres Ehepaar wohnte darin, Monsieur und Madame Legrattier. Sie sind beide bei einem Autounfall ums Leben gekommen. Es ist eine schöne Wohnung. Sie haben Glück gehabt.«
    So kann man das auch ausdrücken, dachte Joséphine, unangenehm berührt davon, wie rasch er auf den Tod der früheren Besitzer zu sprechen gekommen war.
    »Ich habe sie mir angesehen, als sie zum Kauf angeboten wurde«, fuhr er fort, »aber wir konnten uns nicht dazu durchringen umzuziehen. Heute bedaure ich das …«
    Er lächelte flüchtig und wurde sofort wieder ernst. Er war sehr groß und wirkte asketisch. Scharf geschnittene Züge. Sein glattes, durch einen schnurgeraden Seitenscheitel geteiltes schwarzes Haar fiel ihm in die Stirn, seine braunen Augen standen weit auseinander, die Augenbrauen bildeten zwei kräftige schwarze Striche, und seine etwas kurze, breite Nase wies eine leichte Delle auf. Seine sehr weißen Zähne verrieten einen makellosen Schmelz und die Pflege eines ausgezeichneten Zahnarztes. Er ist ja riesig, dachte Joséphine, während sie versuchte, diskret seine Größe zu schätzen. Mindestens einsneunzig. Breite Schultern, aufrechte Haltung, flacher Bauch. Vor ihrem geistigen Auge sah sie ihn in Tenniskleidung, wie er einen Pokal in Empfang nahm. Ein ausgesprochen attraktiver Mann. Ein weißer Stoffbeutel lag flach auf seinen Handflächen.
    »Wir sind im September eingezogen, kurz bevor die Schule angefangen hat. Es war etwas hektisch, aber mittlerweile hat sich alles wieder beruhigt.«
    »Sie werden sehen, das Haus ist sehr angenehm, die Leute sind größtenteils freundlich, und im Viertel gibt es keine Probleme.«
    Joséphine verzog kurz das Gesicht.
    »Sind Sie anderer Meinung?«
    »Nein, nein«, antwortete Joséphine hastig. »Aber die

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