Der langsame Walzer der Schildkroeten
Nebenkeller.
»Vielleicht hast du den Raum doch nicht genug isoliert …«, vermutete Zoé mit einem Blick auf die mit einer dicken weißen Dämmschicht bedeckten Wände.
»Man kann’s auch übertreiben! Das ist ein Keller. Kein Mensch wohnt in seinem Keller. Papa sagt, er hat alles getan, was geht, aber der Typ ist ’n alter Nörgler. Nie zufrieden. Bei jeder Eigentümerversammlung gibt’s Streit, und er findet immer einen, den er anbrüllt.«
»Vielleicht hat er dafür ja gute Gründe …«
»Papa sagt Nein. Er meint, der Typ wäre ein Querulant. Der regt sich über jede Kleinigkeit auf. Wenn ein Auto auf dem Zebrastreifen parkt, flippt er total aus! Wir kennen ihn schon, wir wohnen seit zehn Jahren hier, also …« Er nickte wie ein Erwachsener, dem keiner was vormacht. Er war größer als Zoé, doch er hatte schmale Schultern, und seine Züge wiesen noch ein paar kindliche Spuren auf.
»Shit! Da kommt er! In Deckung!«, zischte Paul.
Er schloss die Kellertür hinter sich und Zoé. Joséphine sah einen großen, sehr gut gekleideten Mann näher kommen, der ein Gebaren zur Schau trug, als gehörten die Kellerflure ihm.
»Guten Abend«, presste sie hervor und drückte sich an die Wand.
»Guten Abend«, entgegnete der Mann und ging an ihr vorbei, ohne sie zu anzusehen.
Er trug einen dunkelgrauen Anzug und ein weißes Hemd. Der Anzug schmiegte sich um einen muskulösen Brustkorb, der feste Krawattenknoten glänzte, und die makellos weißen Manschetten wurden durch zwei graue Perlen geschlossen. Er nahm einen Schlüsselbund aus der Tasche, öffnete die Tür zu seinem Keller und schloss sie hinter sich.
Als der Mann verschwunden war, kam Paul wieder zum Vorschein.
»Hat er was gesagt?«
»Nein«, antwortete Joséphine. »Ich glaube, er hat mich nicht einmal gesehen.«
»Der Typ ist nicht besonders umgänglich. Der verschwendet keine Zeit mit Smalltalk.«
»Sagt das auch dein Vater?«, fragte Joséphine, belustigt über den ernsten Ton des Jungen.
»Nein. Das sagt Maman. Sie kennt alle Leute im Haus. Anscheinend hat er einen super eingerichteten Keller. Mit einem Arbeitsraum und allem möglichen Werkzeug! Und oben in seiner Wohnung hat er ein Aquarium. Riesengroß, mit Höhlen, Pflanzen, fluoreszierender Dekoration und künstlichen Inseln. Aber keine Fische drin!«
»Deine Mutter weiß ja Sachen!«, sagte Joséphine, und ihr wurde klar, dass sie sehr viel über die Bewohner des Hauses erfahren würde, wenn sie sich mit Paul unterhielt.
»Und dabei hat er sie noch nie eingeladen! Sie war nur einmal in der Wohnung, als sie nicht da waren, zusammen mit der Concierge, weil ihre Alarmanlage losgegangen war und abgestellt werden musste. Er ist ausgeflippt, als er das gehört hat. Sie bekommen auch nie Besuch. Ich kenne die Kinder, aber sie laden mich nie ein. Ihre Eltern wollen das nicht. Und sie kommen auch nie runter in den Hof zum Spielen. Sie kommen nur raus, wenn ihre Eltern nicht da sind, sonst sind sie die ganze Zeit oben eingesperrt! Aber zu den van den Brocks im zweiten Stock können wir gehen, wann wir wollen. Die haben einen riesigen Bildschirm, so groß wie die ganze Wohnzimmerwand, mit zwei Boxen und Dolby-Soundsystem. Und wenn einer von ihnen Geburtstag hat, backt Madame van den Brock Kuchen und lädt alle ein. Ich bin mit Fleur und Sébastien befreundet, ich kann sie Zoé vorstellen, wenn sie möchte.«
»Sind sie nett?«, fragte Joséphine.
»Ja, total nett. Er ist Arzt. Und seine Frau singt in der Oper im Chor. Sie hat eine superschöne Stimme. Sie macht oft Stimmübungen, und dann hört man sie im Treppenhaus. Sie fragt mich immer, wie es mit meiner Musik so läuft. Und sie hat mir angeboten, auf ihrem Klavier zu spielen, wenn ich möchte. Fleur spielt Geige und Sébastien Saxofon …«
»Ich würde auch gern ein Instrument lernen …«, warf Zoé ein, die sich offenbar vernachlässigt fühlte.
Sie sah Paul flehend an, als könnte sie es nicht ertragen, dass er sie nicht beachtete.
»Du hast noch nie ein Instrument gespielt?«, fragte Paul verblüfft.
»Äh … nein …«, antwortete Zoé verlegen.
»Ich habe mit Klavier angefangen, Notenlehre, das komplette Programm, aber davon hatte ich irgendwann die Nase voll und bin zum Schlagzeug gewechselt. Das ist cooler, um in einer Band zu spielen …«
»Du spielst in einer Band? Wie heißt sie?«
»Les Vagabonds. Ich habe den Namen gefunden … Ist doch super, oder?«
Joséphine lauschte der Unterhaltung der beiden Jugendlichen und
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