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Der langsame Walzer der Schildkroeten

Der langsame Walzer der Schildkroeten

Titel: Der langsame Walzer der Schildkroeten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Katherine Pancol
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ein kleines Mädchen, das in flagranti beim Betteln erwischt worden war. Der Verkäufer hatte verlegen den Kopf geschüttelt.
    »Wir haben leider keine Probeflaschen, gnädige Frau … Wir haben zwar Piccolos zu fünf Euro, aber die verkaufen wir …«
    Sie hatte den Blick auf ihre Schuhspitzen gesenkt, die Hüften gegen den hölzernen Tresen geschoben und darauf gewartet, dass er weich wurde. Doch er war nicht weich geworden. Stattdessen hatte er sich einem Kunden zugewandt, der eine Kiste renommierten Jahrgangschampagner bestellte. Daraufhin hatte Henriette ihr »Gesicht« aufgesetzt, einen jammervollen, müden Ausdruck. Sie genoss es, diese Rolle zu spielen. Immer wieder bereicherte sie sie um neue Seufzer, um neue Leidensmienen. Sie senkte den Kopf, ließ die Schultern heruntersacken, stöhnte schwach. Doch der Verkäufer blieb hart. Also hatte sie den Laden gerade wieder verlassen wollen, als eine äußerst elegante Dame auf sie zugetreten war.
    »Entschuldigen Sie, Madame, aber ich konnte nicht umhin, Ihr Gespräch mit dem Verkäufer mit anzuhören. Es wäre mir eine Ehre und eine Freude, Ihnen eine Flasche von diesem wunderbaren Champagner zu schenken … damit Sie sie mit Ihrem Mann trinken können.«
    Henriette hatte sich überschwänglich bei ihr bedankt. Tränen schimmerten in ihren Augenwinkeln. Sie hatte gelernt zu weinen, ohne ihr Make-up zu ruinieren. Die Flasche fest unter den Arm geklemmt, war sie hinausgegangen. Die Menschen, die ihr Geld einfach ausgaben, ohne darüber nachzudenken, wussten gar nicht, was sie verpassten. Das Leben wurde so viel aufregender. Jeder Tag brachte neue Zufälle, Abenteuer, köstliche Angst. Jeden Tag triumphierte sie. Sie war sich nicht einmal mehr sicher, ob sie Marcel überhaupt zurückwollte. Sein Geld ja, aber sobald er einsam und ruiniert war, würde sie ihn in ein Altersheim stecken. Sie würde ihn nicht zu Hause behalten.
    Ihre Töchter fehlten ihr nicht. Ihre Enkelkinder auch nicht. Die Einzige, der sie vielleicht ein wenig nachtrauerte, war Hortense. In diesem jungen Mädchen, das ohne Rücksicht auf Verluste seinen Weg ging, erkannte sie sich selbst wieder. Aber sie war auch wirklich die Einzige.
    Sie brannte darauf, Chérubine anzurufen. Nicht, um ihr zu gratulieren oder sich bei ihr zu bedanken, dadurch könnte sich diese verabscheuenswürdige Person womöglich geschmeichelt fühlen und sich allzu wichtig nehmen, sondern um sich ihrer Gefolgschaft zu versichern. Diese Frau könnte sich als wertvolle Verbündete erweisen. Sie wählte ihre Nummer und hörte Chérubines schleppende Stimme.
    »Chérubine, hier ist Madame Grobz, Henriette Grobz. Wie geht es Ihnen, meine liebe Chérubine?«
    Ohne Chérubines Antwort abzuwarten, fuhr sie fort: »Sie ahnen ja gar nicht, wie glücklich ich bin. Ich habe meine Rivalin auf der Straße getroffen, Sie wissen schon, diese widerwärtige Frau, die mir meinen Ehemann gestohlen hat, und …«
    »Madame Grobz?«
    Überrascht, dass Chérubine nicht auf Anhieb wusste, wer sie war, stellte Henriette sich erneut vor und fügte hinzu: »Sie ist in einem erbärmlichen Zustand! Einfach erbärmlich! Ich hätte sie beinahe nicht wiedererkannt! Es geht mit ihr bergab. Was, glauben Sie, kommt als Nächstes? Wird sie sich womöglich etwas …«
    »Mir scheint, sie schuldet mir noch Geld …«
    »Aber, Chérubine, ich habe meine Schulden bei Ihnen bezahlt!«, widersprach Henriette.
    Sie hatte die verlangte Summe persönlich hingebracht. In kleinen Scheinen. Hatte die qualvolle Fahrt in der Métro erduldet, wo sich schwitzende, unförmige Körper an sie gedrängt hatten, während sie ihre Handtasche und ihren Hut schützend unter den Arm geklemmt hielt.
    »Sie schuldet mir Geld … Wenn sie möchte, dass ich fortfahre, muss sie mich bezahlen. Sie ist doch zufrieden mit meiner Arbeit, wie mir scheint …«
    »Aber ich dachte, wir wären … wir wären … Ich dachte, ich hätte …«
    »Sechshundert Euro … bis Samstag.«
    Henriette hörte ein trockenes Klacken.
    Chérubine hatte aufgelegt.
    Morgens, wenn Zoé zur Schule gegangen war, betrat Joséphine das Refugium ihrer Tochter und setzte sich aufs Bett. Ganz vorsichtig, auf die Kante, um keinen Abdruck zu hinterlassen. Sie fühlte sich unwohl dabei, in Zoés Privatsphäre einzudringen. Sie hätte niemals einen Brief aufgefaltet, niemals eine Notiz auf einem Heft gelesen, denn dann hätte sie das Gefühl gehabt, bei ihr einzubrechen. Sie wollte nur ein wenig in ihrer Nähe sein.
    Sie

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