Der langsame Walzer der Schildkroeten
Gleichgültigkeit. Bérengère hatte alles »vergessen«, weil Bérengère dem, was vorgefallen war, ohnehin nie viel Beachtung geschenkt hatte. Sie hatte die Pariser Gerüchte aufgefangen, hatte sich genüsslich die Lippen geleckt, und kaum waren sie verflogen, da erinnerte sie sich an nichts mehr. Tödliche Oberflächlichkeit, du erweist mir gute Dienste!, dachte Iris. Auf ihrer linken Wange entdeckte sie eine winzige Falte, sie schimpfte leise vor sich hin und nahm sich vor, Bérengère nach der Adresse ihres Dermatologen zu fragen.
Der Mann ihr gegenüber ließ sie nicht aus den Augen. Um die fünfundvierzig, entschlossenes Gesicht, breite Schultern. Philippe würde zu ihr zurückkehren. Oder sie würde einen anderen verführen! Sie musste realistisch sein, ihre letzte Munition klug einsetzen. Auch ein General muss im entscheidenden Gefecht die Lage richtig einschätzen. Natürlich wirft er alle Kräfte in die Schlacht, um den Sieg davonzutragen, doch bereitet er gleichzeitig auch eine Strategie für den Rückzug vor.
Sie steckte ihr Puderdöschen zurück in die Tasche und zog den Bauch ein. Sie hatte einen Personal Trainer engagiert, Monsieur Kowalski, der sie durchwalkte, als wäre sie aus Knetmasse. Er rollte sie zusammen und zog sie wieder auseinander, faltete sie zusammen, dehnte sie, zog sie hoch, ließ sie wieder zu Boden fallen, klopfte sie flach. Ungerührt zählte er ihre Bauchmuskelübungen mit, und wenn sie ihn anflehte, seine Ansprüche herunterzuschrauben, zählte er einfach weiter, und eins, und zwei, und drei, und vier, Sie müssen schon wissen, was Sie wollen, Madame Dupin, in Ihrem Alter müssen Sie doppelt so viel trainieren wie andere. Sie hasste ihn, aber sein Training zeigte Wirkung. Er kam dreimal pro Woche. Pfeifend betrat er die Wohnung, einen Stab, den er bei den Übungen verwendete, über der Schulter. Topffrisur, kleine, tiefliegende braune Augen, eine Nase wie ein Knopf und ein Oberkörper wie ein Hochseefischer. Er trug immer den gleichen himmelblauen Trainingsanzug mit orangefarbenen und violetten Streifen und eine kleine Umhängetasche. Er trainierte Geschäftsfrauen, Anwältinnen, Schauspielerinnen, Journalistinnen, Müßiggängerinnen. Während sie schwitzte, betete er ihre Namen und ihre Leistungen herunter. Sie hatte ihn bei Bérengère kennengelernt, die nach sechs Sitzungen aufgegeben hatte.
Sie ließ sich gegen den Sitz sinken. Sie hatte gut daran getan, Alexandre ihren Besuch anzukündigen, ehe sie mit Philippe darüber sprach. So hatte er nicht ablehnen können. Dieser Besuch würde alles entscheiden. Ein Schauer rann ihr über den Rücken.
Was, wenn sie scheiterte?
Ihr Blick fiel auf die grauen Vororte von London, die kleinen ineinander verkeilten Häuser, die schmalen Gärtchen, die trocknende Wäsche, die zerbrochenen Gartenstühle, die mit Graffiti beschmierten Wände. Sie erinnerte sich an die Hochhäuser in den Pariser Vorstädten.
Was, wenn sie scheiterte?
Sie drehte die Ringe an ihren Fingern, streichelte ihre Birkin Bag und die breite Kaschmirstola.
Was, wenn sie scheiterte?
Darüber wollte sie nicht nachdenken.
Sie nickte, als der Mann gegenüber sich erbot, ihre Reisetasche herunterzuheben, und dankte ihm mit einem höflichen Lächeln. Der Geruch von billigem Eau de Cologne, der von ihm ausging, verriet ihr, dass es sich nicht lohnte, einen weiteren Gedanken an ihn zu verschwenden.
Philippe und Alexandre erwarteten sie auf dem Bahnsteig. Wie schön sie waren! Sie war stolz auf sie und drehte sich nicht mehr zu dem Mann um, der hinter ihr herging, bis er sah, dass sie abgeholt wurde, und seine Schritte verlangsamte.
Sie aßen in einem Pub an der Ecke Holland Park Avenue und Clarendon Road zu Abend. Alexandre erzählte, dass er die beste Note in einer Geschichtsarbeit bekommen habe, Philippe klatschte, und Iris folgte seinem Beispiel. Sie fragte sich, ob sie beide im gleichen Zimmer schlafen würden oder ob er einen anderen Raum für sie vorbereitet hatte. Sie erinnerte sich daran, wie verliebt er in sie gewesen war, und redete sich ein, dass solche Gefühle nicht einfach verschwinden konnten. Ein kleines Tief in einem langen Eheleben, das kommt bei jedem Paar einmal vor, das Wichtigste ist doch, was man zusammen aufgebaut hat … Aber was habe ich denn mit ihm aufgebaut?, fragte sie sich im gleichen Moment und verfluchte diesen elenden Scharfblick, der sie daran hinderte, nachsichtig mit sich selbst zu sein. Er hat versucht, etwas aufzubauen, aber
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