Der letzte Werwolf
eine Tiefdruckzone festgesetzt. Mist! Die Feuchtigkeit würde ihre Lockenpracht in Putzwolle verwandeln. Sie zog die Kapuze ihres Sweatshirts hoch. Doch Herr Bozzi, kein Freund nasser Pfoten, steuerte schon nach wenigen Metern den Heimweg an, ohne sein großes Geschäft erledigt zu haben.
Phil spielte Geige, als sie zurückkam. Sie musste auch noch Klavier üben. Es half nichts, wer es auf dem Treuenstein-Musikgymnasium zu etwas bringen wollte, musste auch in den Ferien ran.
Als Phil fertig war und sich oben seinem PC widmete, setzte sich Valentina an den großen Steinweg-Flügel in der Diele, an dem schon ihre Großmutter das Klavierspielen gelernt hatte. Seufzend nahm sie sich die Chopinsonate vor, an der sie schon seit Wochen ackerte, während Herr Bozzi vor der Terrassentür lag und verdrossen in den Regen starrte.
Es wurde ein ruhiger Ferientag, den Valentina damit verbrachte, in ihrem Zimmer aufzuräumen und den alten Plunder, wie Isolde ihre Trödelschätze nannte, endlich mal wieder abzustauben. Kleine Porzellanfiguren, verzierte Fingerhüte, ein gesticktes Abendtäschchen aus Samt, eine bemalte Zuckerdose, alles Dinge, die ihre Geschichte hatten. Und genau das war es, das ihren Reiz ausmachte. Sie wischte behutsam über den Goldrand einer Kakaotasse. Zum Patengeschenke, stand darauf. Was hatte der Mensch, dem sie einst gehörte, alles durchgemacht? Glück und Unglück, Krieg und Frieden. Er lebte längst nicht mehr. Aber seine Tasse war noch da. Valentina griff nach dem seidenen Taschentuch. Isolde hatte recht, sein Zustand war tatsächlich erstaunlich gut, wenn man bedachte, wie alt es sein musste. Es war ein wenig vergilbt, aber die Silberstickerei glitzerte, die Fäden waren kaum oxidiert. Schlagartig stand das geheimnisvolle Erlebnis der vergangenen Nacht vor ihr, und für einen Moment war sie sicher, dass sie nicht geträumt hatte, dass das Symbol von dem Seidentuch, zu dem sie auf so ungewöhnliche Weise gekommen war, eine Bedeutung hatte, auch wenn sie sich ihr nicht erschloss.
Das Klingeln ihres Handys riss den Gedankenfaden ab. Sie ließ sich aufs Bett zurückfallen. „Hi, Anna!“
Am anderen Ende der Leitung sprudelte ein Wasserfall. Anna rief aus Griechenland an, wo sie mit ihren Eltern Urlaub machte. Der Grund ihres Anrufes: Sie hatte sich mal wieder verliebt.
„Alexandros“, wiederholte Valentina. „Hübscher Name und wie sieht er aus?“
Natürlich sah Alexandros voll heiß aus. – Alle Jungs, in die sich Anna verliebte, sahen voll heiß aus. Dass sie mit ihrem griechischen Verehrer nur radebrechen konnte – der voll heiße Alexandros sprach nur ein paar Brocken Englisch – störte Anna nicht. Dafür konnte er voll heiß küssen. Und Anna legte großen Wert darauf, dass ein Junge dieses Fach beherrschte. Als Anna schließlich wortreich ausgeführt hatte, was für ein supercooler Typ ihre Eroberung war, und ihr mitgeteilt hatte, dass sie ihr ein voll heißes Foto von Alexandros gemailt hatte, legte sie auf, ohne sich auch nur im Geringsten dafür zu interessieren, wie es Valentina ging und was sie so machte. Ja, so war sie, ihre beste Freundin. – Ha, ha!
Wie immer nach solchen Gesprächen fühlte sich Valentina hundsmiserabel. Nicht, dass sie Anna ihre Erfolge bei Jungs nicht gönnte, aber abgesehen davon, dass sie immer nur von sich erzählte, war es einfach nicht gerecht, dass die einen aussahen wie Supermodells, hellblond, mit Puppengesicht und Barbie-Figur, und anderen matschbraune Wuschelhaare auf dem Kopf wucherten. Ja, matschbraun! – Verdammt! Auch ihre Augen hatten diese ‚betörende‘ Farbe. Und figurmäßig konnte sie sowieso nicht mithalten. Für Handball war sie super gebaut, mit kräftigen Oberarmen und muskulösen Beinen. Aber alles, was dazwischenlag …?
Valentina starrte zur Zimmerdecke. Kein Wunder, dass sie noch ungeküsst war. Anna hatte schon vor zwei Jahren ihren ersten Kuss bekommen. Aber der einzige Junge, der sich je für sie interessiert hatte, war Lukas, das Grinsmonster, dem die Hosen bis in die Knie hingen. Noch dazu Blechbläser. Tuba. – Ne danke.
Ihr erster Kuss musste was ganz Besonderes sein. Der richtige Junge, der richtige Ort und der richtige Zeitpunkt. Alles musste stimmen! Davon wollte sie noch ihren Enkeln erzählen. Keine Kompromisse. Punkt. Im schlimmsten Fall ging sie lieber ungeküsst ins Grab!
Sie stemmte sich hoch – okay, dann wollte sie sich den voll heißen Alexandros halt mal anschauen. Sie sah sich in ihrem
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