Der letzte Werwolf
weg!“ Mit einer Stimme, die Phil geeignet schien, Glas bersten zu lassen, wehrte die Mopsbesitzerin den kleinen Hund ab. Er rannte los und pflückte den sich sträubenden Herrn Bozzi vom Rock der Frau.
Isolde eilte herbei. „Das tut mir ja so leid“, sagte sie. „Er tut nichts! Er wollte doch nur spielen …“
„Spielen!“ Die Frau schnaubte. „Ich würde nicht zulassen, dass mein Hund andere Leute belästigt. Wenn Sie ihn nicht im Griff haben, müssen Sie ihn eben anleinen.“
Isolde holte Luft, schüttelte dann den Kopf und gab den Kindern einen Wink. Phil nahm Herrn Bozzi wieder an die Leine und sie setzten ihren Spaziergang fort.
„Mehr als entschuldigen kann ich mich ja wohl nicht“, sagte Isolde aufgewühlt. „So ein Verhalten ist für einen zivilisierten Menschen indiskutabel!“
„Hysterische Zimtzicke“, sagte Phil. „Hätte sie ihren Mops frei laufen lassen, wäre er längst nicht so aggressiv gewesen.“
„Trotzdem“, sagte Valentina. „Herr Bozzi folgt überhaupt nicht. Er macht grade, was er will. Wir sollten mit ihm eine Hundeschule besuchen. – Dabei war das eben noch harmlos, wenn ich da an neulich denke … Die Dogge …“ Sie schüttelte den Kopf.
„Ich weiß.“ Die Großmutter verzog das Gesicht. „Passt morgen bloß auf, wenn ein anderer Hund kommt. Ihr wisst ja, wenn er einen nicht riechen kann …“
Phil nickte. Wenn Herr Bozzi einen Konkurrenten nicht riechen konnte, machte er keinen Hehl daraus. Und es war ihm egal, ob er eine Dogge oder einen Pinscher vor sich hatte. Seine rechtes Ohr trug frische Spuren solch einer Begegnung.
Obwohl es noch fast taghell war, hing, scheinbar zum Greifen nah, ein papierweißer Mond am Himmel.
„Seht mal!“ Valentina blickte zu dem kleinen Säulenbau, der abseits des Wegs auf einem sanften Hügel thronte. „Man könnte meinen, der Mond habe sich auf dem Diana-Tempelchen verhakt.“
Ihre Großmutter und Phil wandten die Köpfe zu der Miniaturausgabe eines römischen Tempels, dessen Dreiecksgiebel mit einer Mondsichel aus glänzendem Metall gekrönt war.
Isolde blieb stehen. „Sieht wirklich fast aus, als hätte sich der Mond in der Sichel verfangen. Findet ihr nicht auch, dass der Tempel irgendwie unheimlich ist?“
„Weiß nicht“, sagte Valentina. „Ein bisschen. Vielleicht, weil er ein Grab ist.“
Isolde schien nachzudenken. „Kann sein“, sagte sie dann. „Wir hatten eine uralte Volksschullehrerin – jedenfalls kam sie uns uralt vor –, wahrscheinlich war sie damals jünger als ich heute …“ Sie legte eine versonnene Pause ein. „Die konnte unheimlich gut Geschichten erzählen. Sie kannte alle Sagen aus der Gegend und sie behauptete, dass in den Johannisnächten manchmal eine schwarz gekleidete Frau mit einem großen weißen Hund vor dem Tempel erscheint.“
Valentina drückte sich enger an den Arm ihrer Großmutter. „Johanni? Ich glaub, mich würde der Schlag treffen …“
„Mann“, sagte Phil. „Eine schwarze Frau und ein weißer Hund, das hat sich jedenfalls jemand mit viel Fantasie ausgedacht. Ich hab mal einen Film gesehen, da ist eine weiße Frau in einer Burg umgegangen – irgendwas mit unglücklicher Liebe, ein Schauermärchen halt …“
Isolde sah ihn abwesend an. „Um eine unglückliche Liebe ging es, soweit ich mich erinnere, auch. Die Geschichte rankte sich um Amalia von Treuenstein. Sagen haben ja meistens einen historischen Kern, Orte, Personen und so … Ich hab über all die Jahre leider die Einzelheiten vergessen. Aber ihr Tod war irgendwie mysteriös, das weiß ich noch. Sie muss auch einen Sohn gehabt haben …“ Isolde runzelte die Stirn. „Sinnlos. – Ich krieg die Geschichte einfach nicht mehr zusammen. – Aber dieses Gänsehautgefühl, das hab ich heute noch, wenn ich den Tempel sehe. Jetzt auch …“
„Eines kapier ich nicht“, sagte Valentina mit einem nachdenklichen Blick zu dem Grabmal. „Warum wurde Amalia eigentlich nicht in der Stadtkirche beerdigt? Alle Treuensteins sind doch in der Stadtkirche beerdigt.“
Aber darauf wusste ihre Großmutter keine Antwort.
K APITEL 2
P hil schreckte aus dem Schlaf. Von seinem Schreibtisch flatterten Papiere hoch, der Vorhang blähte sich wie ein Großsegel im Sturm. Gähnend tappte er aus dem Bett, um das Fenster zu schließen. Wetterleuchten erhellte den Horizont. Die Schwüle des Abends entlud sich in einem Unwetter. Donnerwogen rollten über die Dächer. Er sah hinaus und atmete die
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