Der Liebessalat
Beschneiden der Freiheit. Wer weiß, vielleicht waren die Folgen fataler als die der Genforschung. Ordnung schafft Unfreiheit, das war die These. Das war doch einer der Gründe, warum man mit dem Zug fuhr und nicht flog: daß man ohne jede Vorbestellung einsteigen konnte. Wenn das nicht mehr ging, würde Viktor – ja was würde er dann tun? Nichts natürlich. Sich mokieren. Mehr nicht. Über eine paradoxe Menschheit, die von Spontaneität schwärmt und in Psychogruppen Spontansein übt und andererseits ihr ganzes Leben durchreserviert. Deswegen ging Viktor nicht ins Theater. Wochenlang vorher Karten kaufen kam nicht in Frage.
Viktor hätte jetzt gern seinen Laptop zur Hand gehabt, um Stichworte zu diesem Essay zu notieren. Aber mit Laptop im Zug zu sitzen, das war das Allerletzte. Er hatte keine Lust wie einer dieser Versicherungstortengrafiker auszusehen. Es war eine Stilfrage. Einmal und nie wieder hatte er das bequeme Computerschreibmaschinchen mitgenommen, und hatte sich von Hamburg bis München gehaßt für das Bild, das er abgab. Lieber asozial Nägel feilen im Zug, als Laptoptippen oder telefonieren. Daß er in der Hast des Aufbruchs nicht einmal Papier eingesteckt hatte, war allerdings unentschuldbar. Du mußt dich bessern, Viktor, sagte er sich. Vielleicht doch die Reservierungsaversion etwas abbauen und vorausschauender leben? Er griff in die Tasche nach seinem Buch, aus dem er heute abend lesen würde. Hinten auf den leeren Seiten konnte er Notizen machen. Als er das Buch aufschlug, stellte er fest, daß es das Exemplar war, das er Beate, der Dattel, schicken wollte. Es enthielt eine angefangene Widmung, die ihm dann zu schlüpfrig geworden war. Zum Vorlesen brauchte Viktor sein Vorleseexemplar. Das war bekritzelt mit Strichen und Pfeilen. Von Lesung zu Lesung wurde klarer, welche Passagen für Lesungen geeignet waren. Viktor mochte nicht einfach nur ein Kapitel runterlesen. Das konnten die Leute zu Hause besser. Er wollte im Text hin- und herspringen, Pointen setzen und flexibel auf das Publikum reagieren. Seine Vorlesexemplare glichen Partituren, und nur mit ihnen war seine Art von Lesung möglich. Wenn in den Büchern Musik vorkam, nahm er Platten und CDs mit. Standen Abspielgeräte zur Verfügung, legte er die passenden Stücke auf. Eine kleine Katastrophe, daß er die Exemplare verwechselt hatte. Er hatte sich darauf gefreut, die eben gekauften Zeitungen zu lesen, nun würde er zwei Stunden damit beschäftigt sein, für heute Abend eine Vorlesefassung zu rekonstruieren. Du mußt dich bessern, Viktor, sagte er sich erneut, du mußt dein Leben ändern und ordentlicher werden und deine Zeit besser einteilen. Er sollte sich nicht von Susannes gierigem Blick so verrückt machen lassen. Nein: Verrückt machen lassen schon. Nicht so unter Druck setzen lassen, sollte er sich von ihr und ihrem Blick. Er nahm einen Stift, und begann konzentriert auf den Seiten seines Buchs herumzukritzeln, strich Absätze, formulierte neue Anschlußsätze, malte Pfeile, Wellen und Girlanden in den Text.
Trotz seiner Konzentration kam es zu Blickwechseln mit der Frau vis-à-vis. Sie trug einen Ring in einem Nasenflügel. Viktor fing einen ihrer Blicke ein und tippte an seinen Nasenflügel: »Stört der nicht?« Die junge Schweizerin schüttelte lachend den Kopf: »Ich habe noch nie jemanden gesehen, der so wild in einem Buch herumkritzelt.«
Viktor hatte mit einem Mal keine Lust, Schriftsteller zu sein. Eine Blitzvision zog ihm durch den Kopf: Er ist Lehrer im engen Bern, vollkommen glücklich mit dieser jungen Schweizerin verheiratet. Sie wohnen auf dem Land, und jeden Mittag erwartet sie ihn fröhlich mit einem dampfenden Essen. Er liebt sie und sein spießiges ruhiges Leben ohne Unterlaß…
»Ich bin Lehrer und bereite mich auf den Unterricht vor«, sagte er.
»Ah ja«. Die junge Schweizerin schien das Interesse an ihm verloren zu haben.
Pause. Viktor kritzelte wieder. Dann blickte er auf: »Das gibt’s doch nicht!«
»Was?« fragte die junge Schweizerin.
»Sie halten mich also wirklich für einen Lehrer. Sie meinen, ich könnte ein Lehrer sein, ja?« sagte Viktor.
»Wieso nicht?«
Viktor stöhnte.
»Haben Sie etwas gegen Lehrer?« In ihrer Stimme war ein waches Mißtrauen. Das gefiel Viktor. Er konnte sich die Nachmittage und Abende mit ihr vorstellen. Irgendwo bei Bern.
»Überhaupt nicht«, sagte er, »das wäre billig. Gegen Lehrer sind alle. Ich habe nichts gegen sie. Aber ich möchte nicht für einen
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