Der Liebeswunsch
Wand,
die ich wohl bald hereinholen muß. Jetzt, Ende Oktober, ist es hier an der See schon zu rauh, um sich draußen hinzulegen.
Als ich vor vier Tagen, anders als angekündigt, erst am späteren Abend hier eintraf, weil ich unterwegs in einen Stau geraten
war, hatte ich schon bei der Anfahrt von der Deichstraße aus gesehen, daß nur in wenigen Wohnungen Licht brannte und die oberen
Stockwerke des Turms dunkel waren. Auf dem weiträumigen asphaltierten Parkplatz standen nur zehn oder zwölf Autos. Ich konnte
mit meinem Gepäck bis dicht an den Eingang fahren.
Der Hausmeister, ein jüngerer Mann, der vermutlich noch nicht lange hier war, hatte beim Fernsehen auf mich gewartet. Irgendein
Fußballspiel lief hinter seinem Rücken weiter, während er mich bediente. Er händigte mir dieSchlüssel aus, dazu ein Merkblatt für die Mieter und eine Vereinbarung, die ich ihm am Vormittag unterschrieben zurückgeben
sollte. Ich überflog den Zettel und unterschrieb gleich. Während er mir dabei zusah, sagte er: »Da oben sind Sie jetzt alleine.«
Ich wußte nicht, weshalb er diese Bemerkung machte. Vielleicht weil ich ausdrücklich ein seewärts gelegenes Apartment im 14.
Stock bestellt hatte und er etwas herausbekommen wollte über meine Motive, mich da oben für einige Tage einzunisten. Aber
ich nickte nur, und er, schon wieder gleichgültig geworden, wünschte mir einen schönen Aufenthalt.
Der Wohnturm ist nach meiner Schätzung etwa vierzig Jahre alt und wegen der vielen wechselnden Menschen, die ihn in den Sommermonaten
bevölkern, innen und außen etwas schäbig und brüchig geworden. Aber ich, ein Mann, von dem man das Gleiche sagen kann, störe
mich nicht daran. Meistens sitze ich hinter der grau beschlagenen Panoramascheibe des Wohnraums in einem der beiden Sessel,
die nach draußen gerichtet sind und ein wenig einander zugedreht, wie sie zwei Menschen hinstellen würden, die gemeinsam auf
das Meer schauen und dabei miteinander sprechen. Ich versuche mir vorzustellen, sie säße hier neben mir in dem anderen Sessel
und alles würde erst beginnen. Sie sagt: »Nichts habe ich vorausgesehen. Aber immer schien alles schon vorgesehen. Ich konnte
immer nur tun, was ich tun mußte.« Es ist ihre Gedankenstimme, die es sagt, ihre Gedankenstimme, die in meinem Kopf spricht.
Und ich antworte: »Nicht vorgesehen war – wenn überhaupt etwas vorgesehen ist –, daß wir uns früher trafen, als alles noch
offen war.« Sie antwortet: »Vielleicht hättest du mich nicht gewollt.« Ich antworte nicht, und sie schwindet. Der Sessel neben mir ist leer. Ich sitze hier und baue Sätze, die nie gesprochen wurden und nicht mehr gesprochen werden können, denn sie
ist tot. Sie hat allem Reden ein Ende gemacht.
Heute bin ich zum ersten Mal im Aufzug anderen Leuten begegnet, einem älteren Ehepaar, das im achten Stock wohnt. Sie hielten
mir die Tür auf, als sie mich kommen sahen. Ich bedankte mich, und wir fuhren schweigend hoch, bis sie aussteigen mußten.
Vielleicht hätten sie gerne über das Wetter und das Leben im Turm mit mir geredet. Doch sie merkten, daß ich mit mir selbst
beschäftigt war, und behelligten mich nicht.
Wenn ich draußen gewesen bin und alleine in der großen Aufzugkabine in den 14. Stock fahre, habe ich manchmal das Gefühl,
ich kehrte in eine selbstgewählte Einzelhaft zurück.
Ich passiere die schwere stählerne Brandschutztür, die mit einem hallenden Schlag hinter mir zufällt, und bin in dem Korridor,
an dessen beiden Seiten die Apartments liegen. In dem trüben Minutenlicht sehen die graugestrichenen, mit schwarzen Nummern
versehenen Brandschutztüren wie Zellentüren aus. Dahinter verbirgt sich nichts als Dämmerlicht und staubgraue Stille. Die
Vorhänge sind zugezogen, der Haupthahn der Wasserleitung ist abgestellt, und in den Sicherungskästen sind die Schalthebel
heruntergeklappt, um die Stromkreise zu unterbrechen. Ich gehe auf meine Tür zu, schließe auf und von innen gleich wieder
ab, nicht weil ich Angst habe, überfallen und beraubt zu werden, sondern um an den Schlüssel zu denken, wenn ich das Apartment
wieder verlasse. Das ist einer der Tricks, die man sich angewöhnt, wenn man alleine lebt.
Als ich nach meiner Scheidung in eine kleinere Wohnung umziehen mußte, habe ich den Vorzug der Beschränkung kennengelernt:
Sie konzentriert einen auf das Wesentliche. Hier allerdings spüre ich, wie ich mich verliere. Ich blicke über die
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