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Der Liebeswunsch

Der Liebeswunsch

Titel: Der Liebeswunsch Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dieter Wellershoff
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    1
Eine plötzliche Erinnerung
    Manchmal denke ich, daß ich nicht sie erklären muß, sondern mich, mein Interesse an ihr, das so spät, fast sechs Jahre nach
     ihrem Tod, wieder in mir erwacht ist. Doch vielleicht muß ich erst vom Vergessen sprechen, das gewaltsam als Abwendung und
     Trennung begann und dann allmählich in Beruhigung überging. Ich habe immer weniger, immer flüchtiger an sie gedacht und irgendwann
     dann nicht mehr. Wann das war, weiß ich nicht. Man vergißt auch noch das Vergessen, wenn man etwas vergißt. Es ist wie eine
     doppelte Wand oder wie etwas, das es in Wirklichkeit nicht gibt – eine doppelte Dunkelheit. Inzwischen weiß ich: Man kann
     nicht sicher sein. Sie war verschwunden in diesem doppelten Dunkel, bis ich sie plötzlich wiedersah. Sie erschien mir in jener
     bannenden Ausdrücklichkeit, mit der eine Schauspielerin im Lichtkegel eines Scheinwerfers, unbeirrt von den auf sie gerichteten
     Augen im verdunkelten Zuschauerraum, über die Bühne schreitet.
    Wenige Schritte vor mir, bei einer Verkehrsampel, die gerade auf Rot schaltete, kreuzte sie inmitten anderer Fußgänger meinen
     Weg und verschwand in der Seitenstraße. Ruhig, ohne den Kopf zu wenden, ging sie an mir vorbei, in dem unangetasteten Reiz
     ihrer längst vergangenen Erscheinung Jahre vor ihrem Tod. Sie erschien mir in dem seltsamen Zwielicht einer nahen Ferne: unwirklichund selbstverständlich und, wie jene Schauspielerin, nicht anrufbar.
    Es war eine andere, eine fremde Frau, in der ich sie wiedererkannte. Doch das wußte nur mein Verstand, der den Schrecken,
     der mich durchfuhr, mit kurzer Verzögerung beiseite schob. Sie war es nicht. Sie konnte es nicht sein. Es konnte nicht noch
     einmal beginnen. Erleichterung oder Enttäuschung – ich wußte nicht, was ich empfand.
    Während die Frau im rechten Winkel zu meinem Weg sich entfernte – eine ganz andere Person, die nichts von den Phantasien ahnte,
     die ich ihr aufgebürdet hatte –, riß auch meine Verbindung zu der Umgebung, deren Mittelpunkt sie gewesen war. Ich fühlte
     mich wie im Inneren einer durchsichtigen Blase, an deren Außenhaut der Verkehr, die Menschen und die Schaufenster der Geschäfte
     schillerten – eine zerflossene farbige Illusion. Dann wechselte die Ampel auf Grün, und angestoßen von der Bewegung um mich
     herum ging ich weiter in der einmal eingeschlagenen Richtung, Schritt für Schritt weg von dem sich ebenfalls entfernenden
     Anlaß meiner Halluzination. Nach zwanzig, dreißig Schritten hatte ich den Impuls, umzukehren und der nun schon ein großes
     Stück entfernten Frau nachzueilen. Ich wollte ihr ein Stück folgen, um festzustellen, worin sie Anja glich und ob die Ähnlichkeiten
     oder die Unterschiede überwogen. Das sei wichtig, damit die ins Wanken geratene Wirklichkeit sich wieder festigte, sagte ich
     mir. Doch eigentlich verstand ich diesen Gedanken nicht. Ich wußte ja, daß ich mich getäuscht hatte. Deshalb brauchte ich
     jetzt nicht noch hinter der Frau herzulaufen. Es sei denn … Ja, es sei denn, daß dies nur ein Vorwand war, hinter dem sich
     der entgegengesetzte Wunsch verbarg, den ich mir zögernd eingestand: Wie einSchläfer, der, hinausgefallen aus einem unabgeschlossenen Traum, noch einmal die Augen schließt, hatte ich gehofft, daß sich
     die Täuschung noch einmal wiederholte.
     
    Ich hatte mir vorgenommen, ins Kino zu gehen, und obwohl ich keine Lust mehr verspürte, war ich zu schwerfällig, mich anders
     zu entscheiden. Dies war mein erster freier Nachmittag nach einer Reihe von anstrengenden Arbeitstagen mit vielen schweren,
     und wohl nur zum Teil erfolgversprechenden Operationen. Ein Patient, ein 76jähriger Mann, bei dem ich, zusammen mit einem
     dicken, runzligen Karzinom, Magen, Bauchspeicheldrüse, Milz und Querkolon und alle Lymphdrüsen der Umgebung herausgenommen
     hatte, war mir noch auf dem Operationstisch gestorben. Es war der Abschluß einer schrecklichen Woche. Ich hatte mich danach
     flau und abgenutzt gefühlt und das Bedürfnis gehabt, mir für zwei Stunden im Dunkel eines Zuschauerraums aus dem Weg zu gehen,
     zuverlässiger als es mir in meinem Apartment mit Lesen, Musikhören und Telefonieren gelungen wäre. Aber schon als ich die
     Eintrittskarte löste – bei einer etwas schwammig gewordenen Schönheit, die als ein mit Goldkettchen und Amulett behangenes
     Brustbild in dem Kassenhäuschen saß und mir mit einer trägen Handbewegung Billett und Wechselgeld zuschob

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