Der Maedchenmaler
einem leisen Quietschen. Ruben nahm sich vor, sie zu ölen. Alles sollte perfekt sein. Er würde keinen Makel dulden.
Das schwindende Licht gab den Räumen etwas Geheimnisvolles. Nichts wirkte düster oder bedrohlich, eher so, als würde eine andere Welt erschlossen, eine Welt der Schatten, der Ruhe und Geborgenheit.
Ruben hatte die Dämmerung schon immer geliebt. Er hatte sich noch nie im Wald gefürchtet, in Kellerräumen oder auf Speichern. Die Tiere der Dunkelheit faszinierten ihn, Spinnen, Fledermäuse, Katzen. Hätte er an einen Gott geglaubt, wäre es der Gott der Finsternis gewesen. Aber er glaubte nicht. Nur an sich selbst. Denn nur auf sich selbst konnte er sich verlassen, auf niemanden sonst.
Noch einmal wanderte er durch die Räume, um zu prüfen, ob er nichts vergessen hatte. Nein. Alles war an Ort und Stelle, alles hatte er bedacht, jede Vorbereitung getroffen, die nötig war. Er würde jetzt anfangen, ein paar Sachen zu packen und hierher zu schaffen.
Als er über die Landstraße fuhr, war ihm seltsam feierlich zumute. Er lächelte vor sich hin. Wenn sein Vater das noch erlebt hätte ¦
Das Computerspiel zog sich furchtbar in die Länge. Sie saßen in Leos Zimmer. Der Wellensittich krakeelte gegen die Geräusche an, die Zwillinge bombardierten sich mit gemeinen Bemerkungen, und Rhena rückte so nah an Mike heran, dass er nicht weiter ausweichen konnte, ohne vom Stuhl zu fallen.
Endlich erlöste ihn Ilka. Sie hatte ihm erlaubt, sie zur Therapie zu bringen (»bis vor die Tür, und da lieferst du mich ab, ja?«). Das war nicht viel, aber es war ein erster Schritt. Als Nächstes würde sie ihm vielleicht verraten, warum sie die Therapie überhaupt machte.
Sie gingen zu Fuß, Hand in Hand, und die Leute, die ihnen entgegenkamen, lächelten, wie man lächelt, wenn man einem Liebespaar begegnet. Ilka war sehr blass. Sie fürchtete sich vor den Sitzungen, das hatte sie ihm neulich anvertraut. Ihre Hand war eiskalt.
»Ich frage mich, ob alle Therapeuten diesen Röntgenblick haben«, sagte sie. »Du kannst nichts verheimlichen, nicht auf Dauer. Ich hab Angst davor, dass Lara alles hervorzerrt, was ich sorgfältig in mir versteckt habe.«
»Sieh es als Chance«, sagte Mike. »Wenn sie eine gute Therapeutin ist, wird sie dir helfen.«
»Kann sie das nicht, ohne in meinen Geheimnissen herumzustochern?« Ilka nahm die Mütze ab, schüttelte ihr Haar aus und setzte die Mütze wieder auf.
Mike hatte Lust, sie zu küssen. Er tat es nicht.
»Ist das nicht der Sinn einer Psychotherapie?«
Das Haus wirkte freundlich und einladend. In allen Fenstern war Licht. Sie blieben stehen und schauten beide wie gebannt auf die Tür.
»Komm.« Ilka zog Mike weiter. »Wir haben noch ein bisschen Zeit.«
Mike war es recht. Er wäre hundert Jahre mit Ilka durch die Gegend gelaufen. Hauptsache, sie waren zusammen und er musste sich nicht fragen, wo sie war und was sie gerade tun mochte. Seine Eifersucht nahm nicht ab. Sie schien eher noch zu wachsen. So viele Fragen lagen ihm auf der Zunge. So viele Unsicherheiten schleppte er mit sich herum.
»Eigentlich war es Tante Marei, die mich hierher geschickt hat«, sagte Ilka. »Sie macht sich ständig Sorgen um mich.«
Brave Tante Marei, dachte Mike. Pass gut auf sie auf.
»Ist es denn nicht völlig normal, dass ein Mensch sich verändert, wenn er seine Eltern bei einem Unfall verliert?«
»Aber deine Mutter lebt doch.«
Mike biss sich auf die Unterlippe. Er hätte sich ohrfeigen mögen.
»Verloren habe ich sie trotzdem.«
Mike blieb stehen. Er nahm Ilkas Gesicht in die Hände. Ihre Nasenspitze war rot. Er küsste sie. Sie war eiszapfenkalt.
»Erzähl mir von deiner Mutter. Hab doch Vertrauen zu mir.«
»Ich vertrau dir ja, Mike.« Sie wich seinem Blick nicht aus. Legte ihre Hände über seine und sah ihm in die Augen. »Aber die Wahrheit ist ziemlich schwer auszuhalten.«
»Habe ich dich je mit meinen Fragen in die Enge getrieben?«
»Nein.« Sie lachte leise. »Dann wär ich nicht mehr bei dir.«
»Ich halte die Wahrheit aus«, sagte er. »Was ich nicht ertrage, ist dein Schweigen. Ich will dich doch kennen lernen, auch die schwierigen Seiten an dir.«
Ilka zog seinen Kopf zu sich herunter und küsste ihn. Sie schmeckte nach Pfefferminz und ein bisschen nach Schokolade. »Du weißt nicht, worauf du dich da einlässt«, flüsterte sie. Ihre Augen waren ganz nah. Ihr Atem strich ihm warm übers Gesicht. »Es gibt Dinge, die hab ich noch nie erzählt.
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