Der Puppenfänger (German Edition)
F RÜHLING 1992
Erst als die Rufe verstummt waren, blieb sie atemlos stehen und warf sich bäuchlings in eine Mulde. Sie presste die Arme an den Oberkörper, drückte das Gesicht in den Waldboden und schloss die Augen. Ein modrig-süßer Geruch stieg ihr in die Nase. Sie unterdrückte das Schluchzen, das ihr die Kehle zuschnürte, und versuchte ruhiger zu werden.
Einen Moment meinte sie, der eigene, viel zu schnelle Herzschlag werde sich auf den Erdboden übertragen, den Wald zum Beben bringen und damit ihr Versteck und ihre Angst verraten. Wenige Zentimeter neben ihrem rechten Handgelenk entdeckte sie einen Ameisenhaufen. Sie dachte an ihre Schwester und daran, was sie ihr raten würde, wenn sie könnte.
Sie war allein und war es nie zuvor gewesen. Rundum war es totenstill, die Bewohner des Waldes schwiegen. Nur ab und an hörte sie das leise gleichmäßige Surren eines Autos, das weit entfernt über die Kreisstraße fuhr.
Ganz in der Nähe gab es einen Bach, das wusste sie sicher. Sie und ihre Schwester waren oft durch den Wald dorthin gelaufen und hatten sich ihrem Elternhaus von der Rückseite aus genähert. Dieser Bachlauf war ihr Ziel. Wollte sie ihren Verfolgern entkommen, musste sie ihn erreichen. Sie schärfte ihre Sinne und lauschte konzentriert. Doch sie hörte es nicht, das leichte Plätschern des Wassers, das sie mehr herbeisehnte als alles andere, was sie je in ihrem Leben gewünscht hatte.
Nachdem sie ruhiger geworden war, drehte sie sich behutsam auf den Rücken und blickte einen Moment in das dichte, grüne Blätterdach, das den Himmel fast verdeckte und die Morgensonne aussperrte. Sie wartete ab, lauschte, ordnete die vertrauten Töne des Waldes und setzte sich vorsichtig auf. Rundum war kein Geräusch zu vernehmen, das das Herannahen eines anderen Menschen verriet. Als sie ihre zerkratzten, bloßen Beine sah, begann sie wieder zu weinen. Ihre Haut war übersät mit schmutzigen, blutigen Kratzern, die unzählige Brombeerranken geritzt hatten. Ihr Rock war zerrissen, in den offenen Haaren fühlten ihre wunden Finger morsche Zweige und Laub. Den rechten Fuß konnte sie kaum bewegen.
Irgendwann auf der Flucht durch den Wald hatte sie eine Sandale verloren, war weitergestürmt, so schnell sie konnte, hatte versucht, die beißenden, unerträglichen Schmerzen zu ignorieren, war auf allen vieren durchs Unterholz gekrochen, durch modrig-weiche Blätterdecken gerobbt, die Verfolger ganz nahe und ihr eintöniges, schändliches Rufen in den Ohren.
Mit ihren schmutzigen Händen wischte sie die Tränen weg, zog ihre Strickjacke aus, wickelte sie um den Fuß und verknotete die Ärmel über dem Knöchel. Sie musste gefasst sein, ihre Angst unterdrücken, versuchen, logisch zu denken.
Die Männer waren zu zweit und stärker als sie, aber sie kannte den Wald − nicht so gut wie ihre Schwester ihn kannte, aber gut genug, um ihnen zu entkommen. Noch während sie überlegte, was klüger war, die Flucht fortzusetzen oder vorerst abzuwarten, hallten die Stimmen wieder zu ihr herüber. Ihre Jäger riefen im Takt, wie sie es die ganze Nacht über getan hatten, abwechselnd, aber im gleichen Rhythmus.
Sie kroch los, suchte verzweifelt Deckung im Unterholz, rappelte sich auf, als die Stimmen aus zwei verschiedenen Richtungen näher kamen und stetig lauter in ihren Ohren dröhnten.
»Wo bist du, Puppe?«, hallte es von der einen Seite, und gleich nachdem dieser Ruf verstummt war, von der anderen: »Wo bist du, Puppe?«
Sie rannte, so schnell es der Waldboden unter ihren Füßen zuließ, spürte ihren Herzschlag klopfend in der Halsschlagader, in der Brust, im Kopf, keuchte, stolperte und fiel, als Hände nach ihr griffen.
M ITTWOCH, DEN 13. A PRIL 2011
Heide wurde von einer unerträglich lauten Musik geweckt, die sie im Halbschlaf zuerst nicht einordnen konnte. Als sie begriff, dass ihr Handy klingelte, begann ihr Herz zu rasen. Dieter Fuchs, ihr Liebster, der sich ab und an als rechter Scherzbold erwies, ließ sich fast monatlich etwas Neues einfallen, um seinen Schabernack mit ihr zu treiben. Am letzten Sonntag hatte er ihr ein neues Handy geschenkt, ihm den Namen Miss Marple gegeben und die Titelmelodie der Miss-Marple- Serie als Klingelton hochgeladen. Heide hatte die Melodie bisher nicht gelöscht, sich aber auch noch nicht an sie gewöhnen können.
Nächtliche Telefonanrufe kündeten stets familiäre Katastrophen an. Dieters Schussverletzung und auch den Herzinfarkt ihres Vaters hatte man ihr in der Nacht
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