Der Mann, der den Flug der Kugel kreuzte
das nichts daran, dass die Rechnung in seinem Gesicht aufging.
Einen Moment meinte ich, er blicke mich strafend an, als gehöre es sich nicht, dass ein Täter dem anderen bei der Arbeit über die Schulter schaut; dann aber deutete er ein Lächeln an, nickte mir zu wie jemandem, den er vom Sehen kannte, und widmete sich wieder der ausgestellten Ware.
Der Aufschrei einer Verkäuferin riss mich aus meinen Überlegungen. Im Eingangsbereich stand ein junger Kerl, keine achtzehn. Eine Menge solcher Typen lungerten auf dem Bahnhofsgelände herum, mit verkehrt herum aufgesetzten Baseballkappen, wuchtigen Basketballschuhen und schwarzen Lederjacken, die wie offene Zwangsjacken von den schmächtigen Körpern hingen. Die meisten Leute waren der Ansicht, dass die Seelen dieser Jugendlichen vermint waren und es besser sei, solche Problemfälle für allezeit aus dem Verkehr zu ziehen. Nun, der hier gab sich redlich Mühe, die pädagogischen Forderungen der Mehrheit zu begründen, nicht nur seines Aussehens wegen – etwa der schmucken Narbe, die quer über beide Wangen verlief, was seinem südländischen Gesicht einen schrumpfkopfartigen Charakter verlieh –, sondern vor allem, da er eine Pistole in der ausgestreckten rechten Hand hielt und damit durchaus die abendliche Geschäftstätigkeit störte, wie überhaupt den Frieden, der in den Herzen der Menschen brodelte. Noch immer brodelte, oder eigentlich schon wieder, nachdem dieser Friede kurz zuvor übergelaufen war, wie stets am Heiligen Abend.
Obwohl der Junge neben der Kasse stand, hielt er die Waffe nicht der Angestellten unter die Nase, sondern hatte sie in den Raum hinein gerichtet und zielte … nun, er zielte nicht in der Gegend herum, sondern drückte auch ab, denn wegen der Kasse oder eines Buches war er nicht gekommen.
Es war ein Reflex. Ich rede von mir. Der Reflex des guten Menschen? Der Reflex, der wie ein unverrückbarer Schrank auch in einem furchtsamen Gemüt steckt? Ich glaube nicht, dass ich für jeden x-beliebigen Passanten mein Leben riskiert hätte. Aber immerhin bewunderte ich diesen Mann, der mit solcher Bravour Waren in das Angebot hineinzuschmuggeln verstand. Sein Augenleiden, das ich soeben entdeckt hatte, rührte mich, während die Gestalt im Ganzen mir Respekt abverlangte. Ist das ein Grund? Ein Grund dafür, in dem Moment, da eine Kugel abgefeuert wird, sich nicht von jener Person abzuwenden, der diese Kugel gilt, sondern auf sie zuzustürzen, mit ausgebreiteten Armen, um sie aus der Schusslinie zu befördern? Genau das tat ich. Denn der, dem die Kugel galt, merkte es nicht, schaute weiter auf die Kochbücher, schien den Schrei nicht gehört zu haben. Alles ging sehr schnell. Aber ich erreichte ihn, und zwar rechtzeitig, sodass ich ihn gegen ebenjene Kochbücher schleuderte. Dort, wo die Kugel in den Mann hätte dringen sollen, befand ich mich nun selbst, glücklicherweise jedoch nicht mit lebenswichtigen Teilen meines Körpers, sondern bloß mit der linken Hand. Das Projektil trat zwischen den Ansätzen von Daumen und Zeigefinger ein und fuhr durch das Daumensattelgelenk – kein echtes Hindernis, weshalb die Kugel auf der anderen Seite wieder austrat und mit geminderter, aber noch beträchtlicher Geschwindigkeit in den Brustkorb eines Mannes eindrang, der möglicherweise erstarrt oder in die falsche Richtung geflüchtet war, auf jeden Fall so stand, dass die Kugel einen Schusskanal bilden konnte und erst stecken blieb, nachdem sie seine Lunge erreicht hatte. Der Mann hatte mit der Sache nicht das Geringste zu tun. Wonach keine Kugel fragt. Er starb. Woran ich schuld bin. Möglicherweise sogar in zweifacher Hinsicht. Einmal, da ich das eigentliche Opfer aus der Bahn gedrängt hatte. Durchaus löblich. Aber dann hätte ich wenigstens so gut sein können, selbst getroffen zu werden, und zwar entscheidend, nicht bloß mit der Lächerlichkeit der eigenen Hand. Später kam mir sogar der Gedanke, dass ich durch mein Eingreifen die Kugel auf eine Weise abgelenkt hatte, dass sie gerade dadurch an einer so ungünstigen Stelle oder, anders gesagt, in einem ungünstigen Winkel in den Unschuldigen gefahren war.
Ich presste den Körper auf den Boden – überzeugt, dass der Herr, der jetzt in den Kochbüchern lag, trotz meines Einsatzes getroffen worden war. Dass dies vielmehr für einen anderen Herrn hinter mir galt, war mir zu dem Zeitpunkt noch nicht bewusst, auch befand ich mich in Unkenntnis der eigenen Verletzung, die ich noch nicht spürte (sie
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