Der Mann, der den Flug der Kugel kreuzte
ansprechen wollte. Ohnehin wurde nichts geredet, eigentlich auch nichts getan. Na gut, es war ja bloß meine Hand verletzt, und der Einsatz der Sirene beim Losfahren galt vermutlich weniger mir als dem Vorfall an sich. Immerhin meinte ich trotz kurzer, ruhiger Fahrt mehrere Male das Bewusstsein zu verlieren. Vielleicht war da eine zweite Kugel, die ich nicht bemerkt hatte, die keiner bemerkt hatte.
Sie schoben mich durch lange Gänge. Alles wie im Fernsehen, wo man ja auch stets die Perspektive des Patienten zu sehen bekommt, halbe Gesichter, drittel Gesichter, hin und wieder einen Arm, beruhigende Worte, dahinschießende Neonröhren. Ganz so schnell ging es hier nicht. Die Neonröhren schossen nicht, sondern schwammen gemächlich vorbei. Auch sprach noch immer keiner. Und es schien sich nicht gerade um das neueste Spital zu handeln. Vergilbte Wände. Krankes Licht. Kaum Farbgestaltung. Sie ließen mich in einen Operationssaal gleiten. Saal ist übertrieben. Mehr ein Hobbyraum mit Tageslichtlampe. So hatte ich mir früher den Ostblock vorgestellt, Chirurgie als Höhepunkt improvisatorischer Kunst. Überall Mangel, überall Vorsintflut. Deshalb Mikroben, deshalb Amputationen et cetera. War es möglich? Lag ich im Hauptstätter Hospital? Einem Bau in bester Lage, dessen Architektur allerdings an jene Wohnanlagen erinnerte, die von den Rändern unserer Städte wie Nesseln abstehen, um wen auch immer abzuschrecken. Der Ruf dieses Krankenhauses war geprägt durch seine psychiatrische Abteilung. Doch auch als schlichter Unfallpatient eingeliefert zu werden, galt als Unglück, da einigen Ärzten der Ruf der Lässigkeit anhing, der operativen Lässigkeit. Klatsch machte die Runde von verschwundenen Organen, vergessenen Zangen, von Patienten, die wegen erkrankter Herzkranzgefäße gekommen und in der Psychiatrie gelandet waren, natürlich auch von Krankenschwestern, die kein Pardon kannten. Auch wenn einst ein berühmter und angefeindeter Regisseur sich hier hatte behandeln lassen (die Leute behaupteten, dass man es ihm auch ansehe), ein ehemaliger Stararchitekt von »grandioser Medizinmaschine« gesprochen hatte und der Haupttrakt unter Denkmalschutz stand, waren viele Stuttgarter nicht davon abzubringen, den ganzen Komplex als einen »irren Bau« anzusehen.
Ich lag da und blinzelte in die Leuchte. Wieder schob sich ein Kopf dazwischen. Das Gesicht des Chirurgen. Ich glaubte es jedenfalls an seinem zufriedenen Ausdruck zu erkennen. Einer von der spaßigen Sorte, der mit gespielter Hochachtung die Verletzung meiner Hand betrachtete, als hätte ich sie mir selbst zugefügt, und zwar mit Feingefühl und Kunstverstand. Und das nur, um ihm, dem Herrn Doktor, eine Freude zu bereiten.
»Also«, rief er jemandem zu, der hinter mir stand, »Vorhang runter.«
Der Angesprochene stülpte mir die Narkosemaske über und bat mich, rückwärts zu zählen. Warum rückwärts?, fragte ich mich. Gab es dafür einen stichhaltigen Grund, oder handelte es sich bloß um ein Zitat? Ein Anästhesist zitierte den anderen, eine reine Usance, so wie das umgehängte Stethoskop von Internisten, eine Kostümierung, mit der sie ihr Publikum unterhielten und …
Irgendwann in der Nacht schlug ich die Augen auf. Es war rein gar nichts zu sehen. Aber meine Hand spürte ich. Und wie. Als hätten sie mir alle Finger gebrochen und zu einem Zopf gebunden. Sie hatten mich verstümmelt und dann in den Keller geschoben. Niemand würde sich nach mir erkundigen. Ich war Österreicher, aber trotzdem unbeliebt. Auch bei meiner Frau. Sie würde nicht einmal …
»Guten Morgen, Herr … Szirba.«
Mein Name ging dem Mann nicht leicht von der Zunge. Das war ich gewohnt und ließ sämtliche Aussprachen zu. Es wäre unvernünftig gewesen, einen Einheimischen über die richtige Aussprache meines Namens unterrichten zu wollen. Der schwäbische Mensch liebt die Belehrung, die ausgeführte, nicht die angenommene. Sind die Schwaben untereinander, so belehren sie quasi in den leeren Raum hinein. Ihre verbalen Auseinandersetzungen vermitteln das Bild von Duellanten, die in entgegengesetzte Richtungen feuern, und zwar Rücken an Rücken, jedoch nichtsdestoweniger hasserfüllt, möglicherweise in der Hoffnung, das Geschoss würde nach einer Erdumdrehung den Kontrahenten treffen. Seitdem ich in dieser Stadt lebte, hielt ich mich zurück, blieb vermeintlich meinungslos, lachte, wo Lachen angebracht schien, bewegte mich nickend durch mein Arbeits- und Privatleben, lobte alles
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