Der Mann, der seine Frau vergaß
Erdgeschoss erstanden hatte. Er hatte beschlossen, mir sämtliche männlichen Vornamen aus einem erschreckend umfangreichen Band mit dem Titel Wie soll unser Baby heißen? vorzulesen, in der Hoffnung, dass ich auf diese Weise vielleicht einen Hinweis auf meine frühere Identität erhielt. Am liebsten hätte ich vor Verzweiflung laut geschrien, andererseits wusste ich, dass Bernard mir, auf seine fast schon rührend hilflose Art, nur helfen wollte.
Im Laufe dieses langen Nachmittags wurde mir klar, weshalb Wie soll unser Baby heißen? als Hörbuch kein durchschlagender Erfolg beschieden war. Es kamen zwar jede Menge Figuren darin vor, aber sie blieben sämtlich gesichtslos und blass. »Aaron« beispielsweise hatte gleich zu Anfang einen Kurzauftritt und tauchte dann nie wieder auf. Gleiches galt für »Abdullah«, der ebenfalls keinerlei Anhaltspunkte dafür bot, weshalb mir meine Eltern einen solchen Namen hätten geben sollen.
»Ich an deiner Stelle würde mich lieber nicht hinlegen«, sagte Bernard. »Du bist doch hoffentlich noch bei der Sache?«
»Absolut. Aber wenn ich die Augen zumache, kann ich mich besser konzentrieren …«
Ich erwachte zu den nachgerade poetischen Klängen des zärtlich vor sich hin alliterierenden Quartetts »Francis? Frank? Frankie? Franklin?«. Obwohl Bernard bereits seit mehreren Stunden zugange war, deklamierte er jeden Namen voller Inbrunst und Optimismus. Ich hatte soeben denselben Traum gehabt, den ich schon ein paarmal geträumt hatte: ein Schnappschuss von mir und einer Frau, wie wir zusammen lachten. Ich konnte mich zwar weder an ihr Gesicht noch an ihren Namen erinnern, aber sie schien mich ebenso zu lieben wie ich sie. Es war ein Gefühl ungetrübten Glücks, der einzige Farbtupfer in einer schwarz-weißen Welt, und als ich wach wurde und von Neuem in den finsteren Abgrund meines jetzigen Lebens starrte, war ich buchstäblich am Boden zerstört. Wäre Bernards Buch nicht so fesselnd gewesen, hätte ich mich kopfüber in tiefe Depressionen gestürzt.
»Gabriel? Gael? Galvin? Ganesh?«
»Hmm«, sagte ich. »Nach ›Ganesh‹ sehe ich eigentlich nicht aus. Jedenfalls habe ich weder vier Arme noch den Kopf eines Elefanten.« Vielleicht sollte ich ihn bitten, eine Pause zu machen, unter dem Vorwand, dass meine Konzentration nach mehreren Stunden allmählich etwas nachließ.
»Gareth? Garfield? Garrison?« Aus dem Schwesternzimmer drang ein seltsames elektronisches Summen herüber. »Garth? Gavin? Gary?«
Da geschah etwas Außergewöhnliches. Als Bernard den Namen »Gary« aussprach, hörte ich mich plötzlich murmeln: »07700 …«
»Was war denn das?«, fragte Bernard.
»Keine Ahnung«, sagte ich und setzte mich auf. »Es ist einfach so aus mir herausgesprudelt, als du ›Gary‹ gesagt hast.«
»Bist du das? Bist du Gary ?«
»Ich glaube nicht. Sag es noch mal.«
»Gary!«
»07700 …« Und das war noch nicht alles. »900 … 913.«
Es war wie eine unwillkürliche Zuckung, ohne Kontext oder Bedeutung – aber diese Ziffern schienen untrennbar mit dem Namen Gary verbunden.
»Das ist eine Telefonnummer!«, rief Bernard aufgeregt und notierte sie.
»Ja, aber von wem?«
Bernard starrte mich an, als hätte ich nicht nur das Gedächtnis, sondern auch den Verstand verloren. »Vermutlich von einem gewissen Gary, aber wer könnte das sein?«
Wir waren auf ein DNA -Fragment aus meinem früheren Leben gestoßen. Bernard hatte mir erfolgreich den Weg in mein Hinterland gewiesen. Ich war skeptisch und unwillig gewesen, und er hatte mich eines Besseren belehrt. Fast hätte ich ihm zu seiner Hartnäckigkeit und seiner Tatkraft gratuliert, wäre mir nicht just in diesem Moment aufgefallen, dass ihn ebendiese Qualitäten zu seinem Handy hatten greifen und die Nummer wählen lassen.
»Was machst du denn da?«, kreischte ich.
»Gary anrufen. ›913‹ war doch richtig, oder?«
»Nein, nicht! Ich bin noch nicht so weit! Wir sollten erst mit der Ärztin sprechen! Außerdem sind Handys hier drin verbo…«
»Es klingelt!« Er warf mir das Telefon zu.
Zögernd hielt ich es mir ans Ohr. »Es geht keiner dran. Wahrscheinlich irgendeine Fantasienummer. Dass ich mir das überhaupt anhöre …« Da ertönte ein fernes elektronisches Knacken. Und dann, nach einer geschlagenen Woche, drang aus den Trümmerbergen der erste schwache Laut an die ungläubigen Ohren der Rettungsmannschaften.
»Hallo?«, sagte eine Männerstimme. Das Signal war schwach und verzerrt.
»Ähm … hallo?
Weitere Kostenlose Bücher