Der Mann hinter dem Vorhang
Möglichkeit, dass Marta – die sich nicht durch Einfallsreichtum hervortat, wenn wir miteinander ins Bett gingen – sich als listenreich genug erwies, die Passivität des Mannes hinter dem Vorhang nicht nur zu durchbrechen, sondern sogar Vorteil daraus zu ziehen. Mochte dem sein, wie es wollte, mein notorisches Misstrauen war jedenfalls stärker als das brüchige Gerüst, auf dem unsere Ehe ruhte, und da sich keiner von uns beiden zu einer Rettungsaktion aufraffen mochte, überließen wir unser Leben lustvoll dem langsamen Fraß der Motten.
Ich hatte jetzt das Gefühl, mein Leben sei ein einziges Plagiat, denn nicht nur, dass mir dauernd Orte vertraut vorkamen, an denen ich nie zuvor gewesen war, ich spürte auch eine gewisse Empfindungsverarmung, die mir alles, was ich erlebte, vorhersagbar, schon einmal da gewesen oder schlicht idiotisch erscheinen ließ. In dieser Lethargie vergingen die Jahre, in deren unerträglich langsamem Verlauf – dem ein gelegentlicher Trommelwirbel nicht geschadet hätte – sich die Gleichung unseres Lebens auflöste. Der Lauf der Jahre zeigte auch, dass keiner von uns mit seinen Vermutungen über den Mann hinter dem Vorhang richtiggelegen hatte. Nach einer langen Reihe von Freundschaften, die man für die Aufstellung einer Fußballmannschaft hätte halten können, erkannte Eva, dass es Prinzen oder Helden nur hinter Vorhängen gibt und es das Nächstbeste war, die kurzen Momente der Unschuld mit einem Jungen auszukosten, bevor das Ungeheuer in diesem erwachte und ihm bewusstmachte, dass er ihr auch Gewalt antun konnte. Sie ging ins Ausland, in irgendeine Gegend mit unaussprechlichem Namen, von wo sie mir lange Briefe einer unverheirateten Frau mit Katzen schrieb, damit ich zwischen den Zeilen läse, wie gnadenlos glücklich sie war. Die Großmutter starb ohne Zutun des Mannes hinter dem Vorhang im Krankenhaus. Ihr Lebenslicht erlosch, als ich mit meinem Besuch an der Reihe war, und sie ärgerte sich vermutlich, ihr Ableben ausgerecht vor der Person zelebrieren zu müssen, die für sie am wenigsten übrighatte. Als ich Marta die Nachricht überbrachte und sie rittlings auf Soriano sitzend überraschte, begriff ich, dass auch ich mich geirrt hatte und der Mann hinter dem Vorhang gar nicht ihr Liebhaber war.
Marta und ich stritten uns danach nur noch, mit Ausnahme der Zeiten, die wir uns genehmigten, um jeder für sich ein neues Dach über dem Kopf zu suchen, bevor wir aus der gemeinsamen Wohnung auszogen. Sie nahm sich bald eine kleine Dachwohnung in der Stadtmitte, wo Soriano, der schulterzuckend an mir vorbeiging, ja auch die Besorgungen für seine Frau zu erledigen hatte. Ich beschloss, so lange in der Wohnung zu bleiben, bis die Maklerfirma sie zur Besichtigung freigab. Die gepackten Koffer standen neben dem Wohnzimmervorhang und deuteten eine Reiselust an, die ich ganz und gar nicht verspürte, denn kein Ziel schien mir weit genug entfernt, um vor mir selbst davonlaufen zu können. Als man mich benachrichtigte, dass am Nachmittag die ersten Interessenten kämen, schenkte ich mir einen Cognac ein, stellte einen Stuhl vor den Mann hinterm Vorhang und las ihm den letzten Brief vor, den ich von Eva bekommen hatte. Darin war natürlich von ihm die Rede, er war das Thema, auf das auch alle ihre anderen Briefe unweigerlich hinausliefen. In diesem jedoch spekulierte sie weder über sein Aussehen noch die Auswirkungen, die seine Anwesenheit auf unser Leben gehabt hatte, sondern teilte mir mit, dass sie nach langem Suchen herausgefunden hatte, wo Virtudes wohnte, die Eigentümerin der Wohnung. Sie lebte allein und abgeschieden von der Welt in einem großen Haus, das Eva als gotisch anmutend beschrieb und in dem sie mit einer unwirklich jungen Frau gesprochen hatte, einer wunderschönen jungen Dame, die kaum zwanzig zu sein schien und sich kleidete und frisierte wie die Vamps im Kino der Stummfilmzeit. Sie hatte ihre ganze Überredungskunst aufbieten müssen, doch nach dem vierten Tee in der dekadenten Weinlaube hatte die Dame ihr erzählt, dass es das Nichtaufziehen des Vorhangs, der Verzicht auf diese verbotene Liebe war, dem sie ihre ungewöhnliche Jugend verdankte, als wäre ihr Dasein ein Krümel, der sich vom großen Brotlaib des Lebens gelöst hatte, in dem wir anderen zu Hause waren, und dass sie bereit sei, weiterhin der fernen Finsternis entgegenzureisen, in der Großmutter ja schon angekommen war. Was als Aufschub begonnen hatte, war so zu einer Art Unsterblichkeit geworden,
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