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Der Mann ohne Eigenschaften (German Edition)

Der Mann ohne Eigenschaften (German Edition)

Titel: Der Mann ohne Eigenschaften (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Musil
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bliebe!«
    Ulrich meinte, daß man ruhig zu bleiben habe; geradezu stürmisch ruhig, – fügte er hinzu. Er hatte sich losgemacht und in einiger Entfernung vor Bonadea niedergesetzt. »Alles geschieht heute ‚inzwischen‘ und ‚einstweilen‘,« bemerkte er »das muß so sein. Denn wir werden von der Gewissenhaftigkeit unseres Verstandes zu einer entsetzlichen Gewissenlosigkeit unseres Gemüts gezwungen.« Nun hatte er auch sich noch einmal Whisky eingeschenkt und die Beine auf den Diwan gezogen. Er fing an, müde zu werden. »Jeder Mensch denkt ursprünglich über das ganze Leben nach,« erklärte er »aber je genauer er nachdenkt, desto mehr engt sich das ein. Wenn er reif ist, hast du einen Menschen vor dir, der sich auf einem bestimmten Quadratmillimeter so gut auskennt wie in der ganzen Welt höchstens zwei Dutzend anderer Menschen, der genau sieht, wie alle Menschen, die sich nicht so genau auskennen, Unsinn über seine Angelegenheit reden, und sich doch nicht rühren darf, denn wenn er seinen Platz nur um einen Mikromillimeter verläßt, redet er selbst Unsinn.« Seine Müdigkeit war jetzt dünngolden wie das Getränk, das am Tisch stand. »Auch ich rede also schon eine halbe Stunde lang Unsinn« dachte er; aber dieser herabgeminderte Zustand war angenehm. Er fürchtete bloß das eine, daß Bonadea auf den Einfall kommen könnte, sich zu ihm zu setzen. Dagegen gab es nur ein Mittel: reden. Er hatte den Kopf aufgestützt und lag ausgestreckt da wie die Grabfiguren in der Medizeerkapelle. Mit einemmal fiel ihm das ein, und wirklich, während er diese Stellung einnahm, floß Großartigkeit durch seinen Körper, ein Schweben in ihrer Ruhe, und er kam sich gewaltiger vor, als er war; zum erstenmal glaubte er, aus der Ferne, diese Kunstwerke zu verstehen, die er bis dahin nur wie fremde Dinge angesehen hatte. Und statt zu reden, schwieg er. Auch Bonadea fühlte etwas. Es war ein »Augenblick«, wie man das nennt, was man nicht bezeichnen kann. Etwas schauspielerisch Gehobenes vereinigte die beiden, die plötzlich stumm wurden.
    »Was ist von mir übrig geblieben?« dachte Ulrich bitter. »Vielleicht ein Mensch, der tapfer und unverkäuflich ist und sich einbildet, daß er um der Freiheit des Inneren willen nur wenige äußere Gesetze achtet. Aber diese Freiheit des Inneren besteht darin, daß man sich alles denken kann, daß man in jeder menschlichen Lage weiß, warum man sich nicht an sie zu binden braucht, und niemals weiß, wovon man sich binden lassen möchte!« In diesem wenig glücklichen Augenblick, wo sich die sonderbare kleine Gefühlswelle, die ihn für eine Sekunde gefaßt hatte, wieder auflöste, wäre er bereit gewesen, zuzugeben, daß er nichts besitze als eine Fähigkeit, an jeder Sache zwei Seiten zu entdecken, jene moralische Ambivalenz, die fast alle seine Zeitgenossen auszeichnete und die Anlage seiner Generation bildete oder auch deren Schicksal. Seine Beziehungen zur Welt waren blaß, schattenhaft und verneinend geworden. Welches Recht hatte er, Bonadea schlecht zu behandeln? Es war immer das gleiche ärgerliche Gespräch, das sich zwischen ihnen wiederholte. Es entstand aus der inneren Akustik der Leere, in der ein Schuß doppelt so laut widerhallt und nicht aufhört zu rollen; es beschwerte ihn, daß er zu ihr gar nicht mehr anders sprechen konnte als in dieser Art, für deren besondere Qual, die sie beiden bereitete, ihm der halbsinnig hübsche Name Barock der Leere einfiel. Und er richtete sich auf, um ihr etwas Liebenswürdiges zu sagen. »Mir ist jetzt etwas aufgefallen« wandte er sich an Bonadea, die noch immer in würdiger Weise dasaß. »Es ist eine komische Sache. Ein merkwürdiger Unterschied: Der zurechnungsfähige Mensch kann immer auch anders, der unzurechnungsfähige nie!«
    Bonadea erwiderte etwas sehr Bedeutendes. »Ach du!« erwiderte sie. Das war die einzige Unterbrechung, und das Schweigen schloß sich wieder.
    Wenn Ulrich in ihrer Gegenwart von allgemeinen Dingen sprach, so mochte sie es nicht. Sie fühlte sich mit Recht bei allen ihren Fehltritten doch immer inmitten einer Menge ihr ähnlicher Menschen und hatte ein richtiges Empfinden für das Ungesellige, Übertriebene und Einsame seiner Art, sie mit Gedanken, statt mit Gefühlen zu bewirten. Immerhin hatten sich in ihr dabei Verbrechen, Liebe und Traurigkeit jetzt zu einem Ideenkreis vereint, der höchst gefährlich war. Ulrich kam ihr nun beiweitem nicht mehr so einschüchternd und vollkommen vor wie beim Beginn

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