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Der Mann ohne Eigenschaften (German Edition)

Der Mann ohne Eigenschaften (German Edition)

Titel: Der Mann ohne Eigenschaften (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Musil
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oder des Schicksals. Du mußt zugeben, daß niemand für seine Fehler kann, wenn man sie mit seinen eigenen Augen betrachtet; sie sind für ihn im schlimmsten Fall Irrtümer oder schlechte Eigenschaften an einem Ganzen, das ihrethalben nicht weniger gut wird, und natürlich hat er vollkommen recht!«
    Bonadea hatte etwas an ihrem Strumpf zu richten und fühlte sich gezwungen, Ulrich mit etwas zurückgeneigtem Kopf dabei anzusehen, so daß sich am Knie, unbeaufsichtigt von ihrem Auge, ein gegensatzreiches Leben von spitzen Säumen, glattem Strumpf, gespannten Fingern und sanft entspanntem Perlenschmelz der Haut entwickelte.
    Ulrich zündete sich rasch eine Zigarette an und fuhr fort: »Der Mensch ist nicht gut, sondern er ist immer gut; das ist ein gewaltiger Unterschied, verstehst du? Man lächelt über diese Sophistik der Eigenliebe, aber man sollte aus ihr die Folgerung ableiten, daß der Mensch überhaupt nichts Böses tun kann; er kann nur bös wirken. Mit dieser Erkenntnis wären wir am rechten Ausgangspunkt einer sozialen Moral.«
    Bonadea streifte mit einem Seufzer ihren Rock wieder an die rechte Stelle zurück, richtete sich auf und suchte sich mit einem Schluck von dem matten Goldfeuer zu beruhigen.
    »Und nun will ich dir erklären,« setzte Ulrich lächelnd hinzu »warum man für Moosbrugger wohl allerhand fühlen, aber trotzdem nichts tun kann. Im Grunde gleichen alle diese Fälle einem herausstehenden Fadenende, und wenn man daran zieht, beginnt sich das ganze Gesellschaftsgewebe aufzutrennen. Ich werde dir das zunächst an rein verstandesmäßigen Fragen zeigen.«
    Bonadea verlor auf unaufgeklärte Weise einen Schuh. Ulrich bückte sich danach, und der Fuß kam mit den warmen Zehen dem Schuh in seiner Hand entgegen wie ein kleines Kind. »Laß nur, laß, ich mache es selbst!« sagte Bonadea, während sie ihm den Fuß hinhielt.
    »Da sind zuerst die psychiatrisch-juridischen Fragen« erklärte Ulrich unerbittlich weiter, während ihm aus dem Bein der Hauch der verminderten Zurechnungsfähigkeit in die Nase stieg. »Diese Fragen, von denen wir wissen, daß die Ärzte beinahe jetzt schon so weit sind, daß sie die meisten solcher Verbrechen verhindern könnten, wenn wir nur die dazu nötigen Geldmittel aufwenden wollten. Das ist also nur noch eine soziale Frage.«
    »Ach, weißt du, die laß!« bat Bonadea, als er nun schon zum zweitenmal sozial sagte. »Wenn davon gesprochen wird, geh ich zu Hause aus dem Zimmer; das langweilt mich zu Tod.«
    »Nun gut,« lenkte Ulrich ein »ich habe sagen wollen, wie die Technik aus Kadavern, Unrat, Bruch und Giften längst schon nützliche Dinge bereitet, könnte dies fast auch schon der psychologischen Technik gelingen. Aber die Welt läßt sich mit der Lösung dieser Fragen unmäßig viel Zeit. Der Staat gibt Geld für jede Dummheit her, für die Lösung der wichtigsten moralischen Fragen hat er aber nicht einen Kreuzer übrig. Das liegt in seiner Natur, denn der Staat ist das dümmste und boshafteste Menschenwesen, das es gibt.«
    Er sagte es mit Überzeugung; aber Bonadea suchte ihn zum Kern der Sache zurückzubringen. »Liebster,« sagte sie schmachtend »es ist doch gerade das Beste für Moosbrugger, daß er unverantwortlich ist!?«
    »Es wäre wahrscheinlich wichtiger, etliche Verantwortliche umzubringen, als einen Unverantwortlichen vor dem Umgebrachtwerden zu schützen!« wehrte Ulrich ab.
    Er ging jetzt nahe vor ihr auf und ab. Bonadea fand ihn revolutionär und zündend; es gelang ihr, seine Hand einzufangen, und sie legte sie sich auf den Busen.
    »Gut,« sagte er »ich werde dir jetzt die gefühlsmäßigen Fragen erklären.«
    Bonadea entfaltete seine Finger und breitete seine Hand auf ihrer Brust aus. Der begleitende Blick würde ein steinernes Herz gerührt haben; Ulrich glaubte in den nächsten Augenblicken zwei Herzen in der Brust zu fühlen, wie in einem Uhrmacherladen die Uhrschläge durcheinanderwimmeln. Mit dem Aufgebot aller Willenskraft brachte er die Brust in Ordnung und sagte sanft: »Nein, Bonadea!«
    Bonadea war nun den Tränen nahe, und Ulrich redete ihr zu. »Ist es denn nicht widerspruchsvoll, daß du dich wegen dieser einen Sache aufregst, weil ich dir zufällig davon erzählt habe, während du von den Millionen ebenso großer Ungerechtigkeiten, die täglich geschehn, nichts merkst?«
    »Aber das hat doch damit gar nichts zu tun« verwahrte sich Bonadea. »Das eine weiß ich nun eben! Und ich wäre ein schlechter Mensch, wenn ich ruhig

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