Der Mann ohne Eigenschaften (German Edition)
gebildete Menschen nicht hingeben sollten. Und darin liegt leider die Notwendigkeit der Macht und des Soldatenberufs!«
Der General empfand tiefe Befriedigung darüber, mit dieser geistvollen jungen Frau so zu plaudern; da hatte er einmal eine schöne Abwechslung in den dienstlichen Obliegenheiten. Aber Diotima wußte nicht, was sie ihm antworten sollte; aufs Geratewohl wiederholte sie: »Wir hoffen ja wirklich die bedeutendsten Männer zu versammeln, aber die Aufgabe bleibt auch dann noch schwer. Sie machen sich keine Vorstellung davon, wie mannigfaltig die Anregungen sind, die man empfängt, und man möchte doch das Beste wählen. Aber Sie haben Ordnung gesagt, Herr General: Niemals wird man durch Ordnung, durch nüchternes Abwägen, Vergleichen und Prüfen ans Ziel kommen; die Lösung muß ein Blitz, ein Feuer, eine Intuition, eine Synthese sein! Wenn man die Geschichte der Menschheit betrachtet, so ist sie keine logische Entwicklung, wohl aber erinnert sie mit ihren plötzlichen Eingebungen, deren Sinn sich erst nachträglich herausstellt, an eine Dichtung!«
»Halten zugute, Exzellenz,« erwiderte der General »der Soldat versteht wenig von Dichtung; aber wenn jemand einer Bewegung Blitz und Feuer schenken kann, so sind es Exzellenz, das versteht ein alter Offizier!«
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Graf Leinsdorf zeigt sich zurückhaltend
SO WEIT WAR der dicke General ja ganz urban, wenn er auch seine Besuche machte, ohne aufgefordert worden zu sein, und Diotima hatte ihm mehr anvertraut, als sie wollte. Was ihn trotzdem mit Schreck umgab und sie nachträglich ihre Liebenswürdigkeit wieder bedauern hieß, war eigentlich nicht er selbst, sondern, wie Diotima es sich erklärte, ihr alter Freund Graf Leinsdorf. War Se. Erlaucht eifersüchtig? Und wenn, auf wen? Leinsdorf zeigte sich dem Konzil, obgleich er es jedesmal mit kurzer Anwesenheit beehrte, nicht so günstig, wie Diotima erwartet hatte. Se. Erlaucht hatte eine ausgesprochene Abneigung gegen etwas, das er Nur-Literatur nannte. Es war das eine Vorstellung, die sich für ihn mit Juden, Zeitungen, sensationssüchtigen Buchhändlern und dem liberalen, ohnmächtig schwätzenden, für Geld produzierenden Geist des Bürgertums verband, und das Wort Nur-Literatur war geradezu ein neuer Ausdruck von ihm geworden. Jedesmal, wenn Ulrich Anstalten traf, ihm die mit der Post eingelaufenen Vorschläge vorzulesen, worunter sich alle die Anregungen befanden, die Welt vorwärts oder zurück zu bewegen, wehrte er jetzt mit den Worten ab, die jedermann gebraucht, wenn er neben seinen eigenen Absichten auch noch die Absichten aller anderen Menschen erfährt, er sagte: »Nein, nein, ich habe heute etwas Wichtiges vor, und das da ist ja doch nur Literatur!« Er dachte dann an Felder, Bauern, kleine Landkirchen und jene fest von Gott wie die Garben auf einem geschnittenen Feld gebundene Ordnung, die so schön, gesund und lohnend ist, wenn sie auf den Gütern auch zuweilen Schnapsbrennereien zuläßt, um der Entwicklung Rechnung zu tragen. Hat man aber diese ruhige Weite des Blicks, so erscheinen in ihr Schützenvereine und Molkereigenossenschaften, mögen sie noch so abseits zu Hause sein, als ein Stück fester Ordnung und Bindung; und sollten sie sich veranlaßt sehen, auf weltanschaulicher Grundlage eine Forderung zu stellen, so hat diese, wie man sagen könnte, den Vorrang eines grundbücherlich eingetragenen Geistesbesitzes vor den Forderungen, die der Geist irgendeines Privatmannes aufstellt. So kam es, daß Graf Leinsdorf, wenn Diotima mit ihm ernst über das reden wollte, was sie von den großen Geistern in Erfahrung gebracht hatte, gewöhnlich die Eingabe irgendeines Vereines von fünf Dummköpfen in der Hand hatte oder aus der Tasche zog und die Behauptung aufstellte, dieses Papier wiege in der Welt der realen Sorgen schwerer als die Einfälle von Genies.
Das war ein ähnlicher Geist wie der, den Sektionschef Tuzzi an den Archiven seines Ministeriums rühmte, die es ausschlossen, das Konzil amtlich als vorhanden anzusehen, dagegen jeden Flohstich des kleinsten Provinzboten blutig ernst nahmen; und Diotima hatte in solchen Sorgen niemand, dem sie sich anvertrauen konnte, außer Arnheim. Aber gerade Arnheim nahm Se. Erlaucht in Schutz. Er war es, der ihr die ruhige Weite des Blicks dieses Grandseigneurs auseinander setzte, als sie sich über die Vorliebe beklagte, die Graf Leinsdorf für Standschützen und Molkereigenossenschaften an den Tag lege. »Se. Erlaucht glaubt an die richtunggebende
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