Andreas Steinhofel
PROLOG
GLASS
EINES NASSKALTEN APRILMORGENS bestieg Glass, die
linke Hand am Griff ihres Koffers aus abgewetztem
Lederimitat, die rechte am Geländer einer wackeligen
Gangway, einen Ozeanriesen, der im Hafen von Boston zum
Auslaufen nach Europa bereitlag. Menschen wimmelten über
den Pier, Wasser schlug aufgebracht gegen die Kaimauer. In der
Luft hing ein stechender, Übelkeit erregender Gestank, eine
Mischung von verbranntem Teer und faulendem Fisch. Glass
legte den Kopf in den Nacken und betrachtete mit
zusammengekniffenen Augen die dickbauchigen Wolkenbänke,
die sich über der Küste von Massachusetts stapelten.
Nieselregen jagte gegen den dünnen Mantel, der ihre unmöglich
mageren Beine umschlackerte. Sie war siebzehn Jahre alt und
im neunten Monat schwanger.
Abschiedsrufe erklangen, weiße Taschentücher flatterten im
Wind, Motoren erwachten zum Leben. Inmitten der wogenden
Menschenmenge, die sich am Pier versammelt hatte, um
Verwandten und Bekannten Lebewohl zu winken, stand ein
Kind. Lachend erhob es eine Hand und deutete in den grauen
Himmel. Hoch oben, auf salzigem Wind, tanzten Möwen wie
die Papierfetzen bei einer Parade zur Feier des
Unabhängigkeitstages. Die unschuldige Geste rührte Glass und
reichte beinahe aus, ihren Entschluss, Amerika zu verlassen, ins
Wanken zu bringen. Doch plötzlich hatte der Dampfer es eilig.
Mit einem wehmütigen Tuten legte er ab und ließ den Hafen
hinter sich. Sein Bug drückte tief ins Wasser. Glass wandte dem
Festland den Rücken zu. Sie schaute nie zurück.
In den folgenden Tagen sahen die anderen Passagiere das
Mädchen am Bug des stampfenden Schiffes stehen, den grotesk
angeschwollenen Bauch gegen die Reling gepresst, den Blick
unverwandt auf das Meer gerichtet. Glass hielt den neugierigen
Blicken und dem Flüstern der Menschen trotzig stand. Niemand
wagte es, sie anzusprechen.
Eine Woche nachdem sie Amerika für immer hinter sich
gelassen hatte, spürte Glass auf der Zunge den Geschmack von
salzigem Tang; am Mittag des achten Tages betrat sie die Alte
Welt. Noch Stunden später hatte Glass das Gefühl, der Boden
schwanke unter ihren Füßen. Vom Schiff aus hatte sie Stella
mehrfach telegrafiert, dass sie auf dem Weg nach Visible sei,
wo sie auf unbestimmte Zeit bleiben wolle. Ihre ältere
Schwester, die sie zuletzt als kleines Mädchen gesehen hatte,
deren letzter Brief aber keine vier Wochen alt war, hatte keine
Antwort zurückgekabelt. Das war nicht zu ändern. Glass hatte
nicht Tausende von Seemeilen hinter sich gebracht, um jetzt
unverrichteter Dinge und hochschwanger wieder umzukehren.
Es dauerte den verbleibenden Tag und eine halbe Nacht, um
den Rest der nach Süden führenden Strecke mit der Eisenbahn
zurückzulegen – in Zügen, die immer kürzer, immer
unbequemer und immer langsamer wurden. Nichts an der
Landschaft, die da draußen an ihr vorbeizog, erinnerte Glass an
Amerika. In Amerika war der Himmel weit, der Horizont
endlos, bestenfalls begrenzt von beinahe unüberwindlichen,
verschneiten Gebirgsketten, und die Flüsse waren träge,
uferlose Ströme. Hier aber schien das Land zu schrumpfen, je
weiter man sich von der Küste entfernte. So weit das Auge
reichte, hatte alles – die mit Schnee überzuckerten Wälder, die
froststarren Hügel und Berge sowie die dazwischen liegenden
Dörfer und Städte – die überschaubaren Maße einer
Spielzeuglandschaft, und selbst die breitesten Flüsse schienen in
ihrem Lauf gezähmt. Nach dem letzten Umsteigen saß Glass,
die Hände auf dem Bauch gefaltet, allein in ihrem überheizten
Abteil, starrte müde zum Fenster hinaus in die tintenschwarze
Nacht und überlegte, ob sie den richtigen Schritt getan hatte.
Schließlich fiel sie in unruhigen Schlaf. Im Traum sah sie einen
unscheinbar braunen Vogel, der von einem gewaltigen Adler
mit goldenen Schwingen verfolgt wurde. Tief unter ihnen der
Ozean, schossen Jäger und Gejagter in Zickzacklinien durch
den sturmzerrissenen schwarzen Himmel, bis der kleine Vogel
der Erschöpfung nachgab, seine Flügel an den Körper legte und
sich fallen ließ. Wie ein Stein schlug er auf dem Meer auf, wo
er zwischen aufgewühlten, blaugrauen Wellen versank.
Glass schreckte auf, als der Zug ruckend zum Stillstand kam.
Unvermittelt krampfte sich ihr Unterleib zusammen, und zum
ersten Mal befürchtete sie ernsthaft, dass bald die Wehen
einsetzen könnten. Sie spähte nervös zum Fenster hinaus und
erblickte in einem
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