Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Mann ohne Eigenschaften (German Edition)

Der Mann ohne Eigenschaften (German Edition)

Titel: Der Mann ohne Eigenschaften (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Musil
Vom Netzwerk:
vom Erwachen einer neuen Seele, wie sie zu seiner Jugendzeit im Schwange gewesen waren, oder mit den langen mageren Mädchenkörpern, die man damals im Bilde liebte und durch ein Lippenpaar auszeichnete, das wie ein fleischiger Blütenkelch aussah.
    Damals, es war um das Jahr achtzehnhundertsiebenundachtzig – »du lieber Gott, also fast vor einem Menschenalter!« dachte Arnheim – zeigten seine eigenen Photographien einen modernen, »neuen« Menschen, wie man das zu jener Zeit nannte, das heißt, er trug auf ihnen eine hochgeschlossene schwarze Atlasweste und eine breite Kragenbinde aus schwerer Seide, die an die Mode der Biedermeierzeit anknüpfte, der Absicht nach aber an Baudelaire erinnern sollte, was durch eine Orchidee unterstützt wurde, die als neue Erfindung zauberhaft bösartig in einem Knopfloch stak, wenn Arnheim jun. zu Tafel gehn und seine junge Person in einer Gesellschaft von robusten Kaufleuten und Freunden seines Vaters durchsetzen mußte. An Werktagen dagegen zeigten die Bilder gerne einen Zollstab als Schmuck, der aus einem weichen englischen Strapazanzug guckte, zu dem recht komisch, aber die Bedeutung des Kopfes erhöhend, ein viel zu hoher steifer Stehkragen getragen wurde. So hatte Arnheim ausgesehen und vermochte noch heute nicht, seinem Abbild ein gewisses Maß von Wohlwollen zu versagen. Er spielte gut und mit dem Eifer einer noch ungewöhnlichen Leidenschaft Tennis, das man in jener ersten Zeit auf Grasplätzen betrieb; besuchte zum Staunen seines Vaters und allen sichtbar Arbeiterversammlungen, denn er hatte während eines Studienjahrs in Zürich die anstößige Bekanntschaft der sozialistischen Ideen gemacht; bedachte sich aber auch nicht, andern Tags rücksichtslos zu Pferd durch ein Arbeiterdorf zu sprengen. Kurz, alles das war ein Wirbel von widerspruchsvollen, aber neuen geistigen Elementen gewesen, welche die bezaubernde Einbildung erweckten, zur rechten Zeit geboren worden zu sein, die so wichtig ist, wenngleich man später natürlich erkennt, daß ihr Wert nicht gerade in ihrer Seltenheit liegt. Ja Arnheim war, späterhin immer mehr Raum konservativen Erkenntnissen gebend, sogar im Zweifel, ob dieses sich beständig erneuende Gefühl, der zuletzt Gekommene zu sein, nicht eine Verschwendung der Natur darstelle; er gab es jedoch nicht preis, weil er nur sehr ungern überhaupt etwas preisgab, was er einmal besessen, und sein sammelndes Wesen sorgfältig alles in sich aufbewahrt hatte, was es damals gegeben. Nur kam ihm heute vor, so abgerundet und mannigfaltig sein Leben sich ihm auch darstellte, es hätte darin von allem doch gerade das eine ihn ganz anders nachwirkend ergriffen, was zuerst unter allem als das Unwirklichste erschienen war: eben jener romantisch ahnungsvolle Zustand, der ihm eingeflüstert hatte, nicht nur der lebhaft bewegten Welt, sondern noch einer anderen anzugehören, die wie ein angehaltener Atem in ihr schwebte.
    Diese schwärmerische Ahnung, die ihm nun durch Diotima wieder in ihrer ganzen Ursprünglichkeit gegenwärtig war, gebot jeder Tätigkeit und Regsamkeit Stille, der Tumult der jugendlichen Widersprüche und die hoffnungsvollen wechselnden Aussichten machten dem lautlosen Tagtraum Platz, daß alle Worte, Geschehnisse und Forderungen in ihrer von der Oberfläche abgewandten Tiefe ein und dasselbe seien. In solchen Augenblicken schwieg selbst der Ehrgeiz, die Ereignisse der Wirklichkeit waren fern wie der Lärm vor einem Garten, ihn dünkte, die Seele sei aus ihren Ufern getreten und nun erst wahrhaft anwesend. Man kann nicht lebhaft genug versichern, daß dies keine Philosophie war, sondern ein ebenso körperhaftes Erlebnis, wie wenn man den vom Tageshimmel überstrahlten Mond stumm im Vormittagslicht hängen sieht. In diesem Zustand speiste zwar schon der junge Paul Arnheim beherrscht in einem vornehmen Restaurant, ging sorgfältig gekleidet in jede Gesellschaft und tat überall das, was zu tun war; aber man konnte sagen, daß es dabei von ihm zu ihm ebensoweit war wie zum nächsten Menschen oder Ding, daß die Außenwelt nicht an seiner Haut aufhörte und die Innenwelt nicht bloß durch das Fenster der Überlegung hinausleuchtete, sondern daß sie beide sich zu einer ungeteilten Abgeschiedenheit und Anwesenheit vereinten, die so mild, ruhig und hoch war wie ein traumloser Schlaf. In moralischer Beziehung zeigte sich dann eine wahrhaft große Gleichgültigkeit und Gleichwertigkeit; es war nichts klein und nichts groß, ein Gedicht und *ein Kuß auf

Weitere Kostenlose Bücher