Der Mann ohne Eigenschaften (German Edition)
Nebentisch, der Gruß eines Eintretenden, irgendetwas von dieser Art erinnerte Arnheim jedesmal im rechten Augenblick an die Notwendigkeit, aus sich eine eindrucksvolle Erscheinung zu machen, und diese Einheit der Erscheinung übertrug sich denn auch sogleich auf sein Denken. Er hatte diese Lebenserfahrung in die zu seinen Bedürfnissen passende Überzeugung gefaßt, daß der denkende Mensch immer zugleich auch ein handelnder sein müsse.
Trotz solcher Überzeugung maß er aber seiner augenblicklichen Tätigkeit keine sehr große Bedeutung bei; wenngleich er damit ein Ziel verfolgte, das unter Umständen überraschend lohnend sein konnte, fürchtete er, daß er seinem Aufenthalt Opfer an Zeit bringe, die nicht zu rechtfertigen seien. Er rief sich wiederholt die alte kühle Weisheit »Divide et impera« ins Gedächtnis: sie gilt von jedem Verkehr mit Menschen und Dingen und fordert eine gewisse Entwertung jeder einzelnen Beziehung durch die Gesamtheit aller, denn das Geheimnis der Stimmung, in der man erfolgreich handeln will, ist das gleiche wie das des Mannes, den viele Frauen lieben, während er keine ausschließlich bevorzugt. Doch nützte das nichts; sein Gedächtnis stellte ihm die Forderungen vor, welche die Welt einem zu großer Tätigkeit geborenen Mann auferlegt, er konnte sich aber, nach vielfach wiederholter Befragung seines Inneren, trotzdem nicht dem Ergebnis verschließen, daß er liebte. Und das war eine sonderbare Sache, denn ein Herz, das gegen fünfzig Jahre alt ist, ist ein zäher Muskel, der sich nicht mehr so einfach ausdehnen mag wie der eines Zwanzigjährigen in der Zeit der Liebesblüte, und es bereitete ihm beträchtliche Unannehmlichkeiten.
Er stellte zunächst mit Besorgnis fest, daß seine ausgebreiteten Weltinteressen wie eine der Wurzel beraubte Blume abwelkten und unbedeutende Eindrücke des Alltags, bis zu einem Sperling am Fenster oder zum freundlichen Lächeln eines Kellners hinunter, geradezu aufblühten. An seinen moralischen Begriffen, die sonst ein großes System des Rechthabens darstellten, dem nichts entschlüpfte, bemerkte er, daß sie beziehungsärmer wurden, dagegen etwas Körperliches ansetzten. Man konnte es Hingabe nennen, aber das war gleich ein Wort, das sonst einen viel weiteren und jedenfalls auch anderen Sinn hatte, denn ohne sie kommt man nirgends aus; Hingabe an eine Pflicht, an einen Höheren oder Führer, auch die an das Leben selbst, in seinem Reichtum und seiner Mannigfaltigkeit, war sonst, als männliche Tugend verstanden, für ihn der Inbegriff eines aufrechten Verhaltens gewesen, das bei aller Aufgeschlossenheit mehr Zurückhaltung als Hinausgabe enthielt. Und gleiches ließe sich von der Treue sagen, die, auf eine Frau beschränkt, einen engen Beigeschmack hat; von Ritterlichkeit und Sanftmut, Selbstlosigkeit und Zartgefühl, alles Tugenden, die wohl gewöhnlich in Verbindung mit der Frau vorgestellt werden, aber dabei ihren besten Reichtum verlieren, so daß sich schwer sagen läßt, ob auch das Erlebnis der Liebe nur zu ihr, wie Wasser an die tiefste und gewöhnlich nicht einwandfreie Stelle zusammenströmt oder ob das Erlebnis der Frauenliebe die vulkanische Stelle ist, von deren Wärme alles lebt, was auf der Erdoberfläche blüht. Ein sehr hoher Grad von männlicher Eitelkeit fühlt sich darum in der Gesellschaft von Männern wohler als in der von Frauen, und wenn Arnheim seinen in die Sphären der Macht getragenen Ideenreichtum mit dem durch Diotima bewirkten Zustand der Glückseligkeit verglich, so konnte er sich des Eindrucks einer rückläufigen Bewegung, die mit ihm vor sich gegangen sei, durchaus nicht erwehren.
Er hatte zuweilen das Bedürfnis nach Umarmungen und Küssen wie ein Knabe, der sich, wenn sein Wunsch nicht erfüllt wird, leidenschaftlich zu Füßen der Versagenden stürzt, oder er ertappte sich bei dem Verlangen, zu schluchzen, Worte hervorzustoßen, welche die Welt herausfordern sollten, und schließlich gar die Geliebte auf seinen eigenen Händen zu mitführen. Nun weiß man ja wohl, daß am verantwortungslosen Rand der bewußten Person, von wo die Märchen und Gedichte kommen, auch allerhand kindische Erinnerungen zu Hause sind und sichtbar werden, wenn ausnahmsweise der leichte Rausch einer Ermüdung, das fessellose Spiel des Alkohols oder irgendeine Erschütterung diese Bezirke durchhellen; und leibhaftiger als solche Schemen waren auch Arnheims Anwandlungen nicht, so daß er nicht Ursache gehabt hätte, sich über sie
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