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Der Mann ohne Eigenschaften (German Edition)

Der Mann ohne Eigenschaften (German Edition)

Titel: Der Mann ohne Eigenschaften (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Musil
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aufzuregen (und durch solche Erregung die ursprüngliche gewichtig zu verstärken), wenn ihn nicht diese infantilen Rückwandungen aufdringlich davon überzeugt hätten, daß sein Seelenleben voll von verblaßten Moralpräparaten sei. Das Allgemeingültige, das er immer seinen Handlungen zu geben bestrebt war, als ein vor ganz Europa lebender Mensch, zeigte sich ihm mit einemmal als etwas Uninnerliches. Vielleicht ist das nur natürlich, wenn etwas für alle gelten soll; das Befremdliche war aber die Umkehrung dieses Schlusses, die sich Arnheim gleichfalls aufdrängte, denn wenn das Allgemeingültige uninnerlich ist, dann ist umgekehrt der innere Mensch das Ungültige, und so verfolgte Arnheim jetzt nicht nur auf Schritt und Tritt der Drang, irgend etwas unrichtig Schmetterndes, unvernünftig Illegitimes zu tun, sondern auch noch die Belästigung, daß dies im Sinne irgendeiner Übervernunft das Richtige wäre. Seit er das Feuer wieder kennengelernt hatte, das ihm die Zunge verdorrte, überwältigte ihn das Gefühl, er habe einen Weg, den er ursprünglich gegangen, vergessen, und die gesamte Ideologie eines großen Mannes, die ihn erfüllte, sei nur der Notersatz für etwas, das ihm verlorengegangen war.
    Auf diese Weise erinnerte er sich in natürlicher Folge seiner Kindheit. Auf seinen Jugendbildnissen hatte er große, schwarze, runde Augen, wie man den Knaben Jesus malt, wenn er im Tempel mit den Schriftgelehrten disputiert, und er sah alle Erzieherinnen und Erzieher in einem Kreis um sich versammelt stehn und sich über seine Geistesgaben wundern, denn er war ein kluges Kind gewesen und hatte immer kluge Erzieher gehabt. Er hatte sich aber auch als glühendes, gefühlvolles Kind bewährt, das kein Unrecht leiden konnte; da er selbst viel zu behütet gewesen, als daß ihm eins hätte geschehen können, nahm er sich auf der Straße fremden Unrechts an und warf sich seinetwillen in Kämpfe. Das war eine sehr bedeutende Leistung, wenn berücksichtigt wird, wie sehr man ihn daran hinderte, so daß niemals mehr als eine Minute verstrich, ohne daß jemand herbeistürzte, um ihn von seinem Gegner zu trennen. Und weil auf diese Weise solche Kämpfe gerade lange genug dauerten, um die eine oder andere schmerzliche Erfahrung zu sammeln, aber rechtzeitig genug unterbrochen wurden, um in ihm den Eindruck ungebeugter Tapferkeit zu hinterlassen, dachte Arnheim noch heute mit Einverständnis an sie zurück, und die Herreneigenschaft vor nichts zurückscheuenden Mutes überging später auf seine Bücher und Überzeugungen, wie es ein Mensch braucht, der seinen Zeitgenossen zu sagen hat, wie sie sich zu verhalten haben, um würdig und glücklich zu sein.
    Dieser Zustand seiner Kinderzeit war ihm also verhältnismäßig lebhaft erhalten geblieben, aber ein anderer, der sich etwas später und teilweise als die umbildende Fortsetzung eingestellt hatte, zeigte sich dem Betrachter entschlafen oder, richtiger gesagt, versteint, wenn man erlaubt, dabei unter Steinen Brillanten zu verstehen. Es war der, nun in der Berührung mit Diotima zu neuem Leben aufschreckende der Liebe, und das Bezeichnende war, daß ihn Arnheim in seiner Jünglingszeit ursprünglich ganz ohne Frauen, überhaupt ohne bestimmte Personen, kennengelernt hatte, und daran war etwas Verwirrendes, womit er sein Leben lang nicht fertiggeworden, obgleich er im Lauf der Zeit die modernsten Erklärungen dafür kennenlernte. »Was er meinte, war vielleicht nur das unbegreiflich Hergekommene von etwas noch Abwesendem, wie jene seltenen Mienen in Gesichtern, die gar nicht mit diesen, sondern mit irgendwelchen anderen, plötzlich jenseits alles Gesehenen vermuteten Gesichtern zusammenhängen, waren kleine Melodien mitten in Geräuschen, Gefühle in Menschen, ja es gab in ihm Gefühle, die, wenn seine Worte sie suchten, noch gar keine Gefühle waren, sondern nur, als hätte sich etwas in ihm verlängert, mit den Spitzen sich schon hineintauchend, benetzend, wie die Dinge manchmal sich verlängern, an fieberhellen Frühlingstagen, wenn ihre Schatten über sie hinauskriechen und so still und nach einer Richtung bewegt stehen wie Spiegelbilder im Bach.« So hatte es, freilich viel später und mit anderem Akzent, ein Dichter ausgedrückt, den Arnheim schätzte, weil es für ein Zeichen von Eingeweihtheit galt, von diesem, dem Gesicht des Publikums entzogenen, heimlichen Mann zu wissen; ohne daß er ihn übrigens selbst verstand, denn Arnheim verband solche Andeutungen mit den Reden

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