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Der Mann ohne Eigenschaften (German Edition)

Der Mann ohne Eigenschaften (German Edition)

Titel: Der Mann ohne Eigenschaften (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Musil
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und schwermütig im Wettkampf mit Walter, war sie heute fest davon überzeugt, daß sie alles, was sein Wesen trübte, ehe er in die Schweiz ging, auf sich gezogen und es ihm dadurch ermöglicht hatte, sich so unerwartet zu verwandeln. In dieser Auffassung wurde sie durch das bestärkt, was sich anschließend zwischen ihr und Walter vollzogen hatte; Clarisse konnte diese lange vergangenen Jahre und Monate nicht mehr genau auseinanderhalten, aber es war schließlich auch gleich, wann das eine oder das andere geschehen war, im ganzen war nach der widerstrebensvollen Annäherung an Walter dann eine schwärmerische Zeit, mit Spaziergängen und Geständnissen und geistiger Besitzergreifung gekommen, die zugleich von jenen unzähligen kleinen, unendlich qualseligen Ausschweifungen ausgefüllt war, zu denen zwei Liebende hingerissen werden, denen noch ebensoviel zum ganz entschlossenen Mut fehlt, wie ihnen von der Keuschheit schon abhanden gekommen ist. Das war nicht anders, als ob ihnen Meingast seine Sünden zurückgelassen hätte, damit sie in einem höheren Sinn noch einmal durchlebt und bis zum höchsten Sinn zerlebt würden, und sie faßten es beide so auf. Und heute, wo Clarisse sich so wenig aus Walters Liebe machte, daß sie oft von ihr angewidert wurde, sah sie es noch deutlicher, daß der Rausch des Liebesdurstes, der sie in solchem Ausmaß toll gemacht hatte, nichts gewesen sein konnte als eine Inkarnation, was, wie sie wußte, Einfleischung hieß, von etwas Unfleischlichem, einem Sinn, einer Aufgabe, einem Schicksal, wie sie für Auserwählte zwischen den Sternen vorbereitet werden.
    Sie schämte sich nicht, sie hätte eher weinen mögen, wenn sie Damals und Jetzt verglich; aber Clarisse konnte auch niemals weinen, sondern sie preßte die Lippen aufeinander, und es wurde etwas daraus, das ihrem Lächeln ähnlich sah. Ihr Arm, geküßt bis zur Achselhöhle, ihr Bein, bewacht von dem Auge des Teufels, ihr biegsamer Leib, tausendfach gedreht vom Verschmachten des Geliebten und wie ein Seil sich zurückdrehend, bewahrten das wunderbare Begleitgefühl der Liebe: in allen Gebärden, die man tut, von geheimnisvoller Wichtigkeit zu sein. Clarisse saß da und kam sich wie eine Schauspielerin in der Pause vor. Allerdings wußte sie nicht, was kommen sollte; aber sie war überzeugt, daß es die unendliche Aufgabe aller Liebenden sei, sich als das zu erhalten, was man für einander in den höchsten Augenblicken gewesen ist. Und ihr Arm war da, ihre Beine waren da, ihr Kopf saß auf dem Leib, mit einer unheimlichen Bereitschaft, als erster das Zeichen wahrzunehmen, das nicht ausbleiben konnte. Es ist vielleicht schwer zu begreifen, was Clarisse meinte, aber ihr bereitete es keine Mühe. Sie hat einen Brief an den Grafen Leinsdorf geschrieben, mit der Forderung eines Nietzsche-Jahrs und zugleich der Befreiung des Frauenmörders und vielleicht seiner öffentlichen Ausstellung, zur Erinnerung an die Passionswege derer, die die verstreuten Sünden aller auf sich vereinigen müssen; und nun weiß sie auch, warum sie es getan hat. Man muß das erste Wort sprechen. Wahrscheinlich hat sie sich nicht gut ausgedrückt, aber das tut nichts; die Hauptsache ist, daß man beginnt und mit dem Dulden und Gewährenlassen Schluß macht. Es ist historisch bewiesen, daß die Welt von Zeit zu Zeit dahinter klang das Wort »Aeon zu Aeon«, wie zwei Glocken, die man nicht sieht, obgleich sie nahe sind – solcher Menschen bedarf, die nicht mitwirken und mitlügen können und dadurch unliebsames Aufsehen erregen. Soweit war die Sache klar.
    Und es ist auch klar, daß Menschen, die unliebsames Aufsehen erregen, den Druck der Welt zu spüren bekommen. Clarisse weiß, daß die großen aus der Menschheit hervorgegangenen Genies fast immer zu leiden hatten, und sie wundert sich nicht darüber, daß manche Tage und Wochen in ihrem Leben unter einem bleiernen Druck stehen, so als ob eine schwere Platte darüberhin gezogen würde; aber es ging noch jedesmal vorbei, und alle Menschen sind so, die Kirche hat in ihrer Weisheit sogar Trauerzeiten eingeführt, um die Trauer zusammenzuziehn und zu verhindern, daß halbe Jahrhunderte von Mutlosigkeit und Gefühllosigkeit überflutet werden, was auch schon vorgekommen ist. Schwieriger sind in Clarissens Leben gewisse andere Augenblicke zu behandeln, allzu befreite und gegendrucklose, wo manchmal ein Wort genügt, um sie gleichsam aus den Schienen springen zu machen; sie ist dann außer sich, sie kann nicht

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