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Der Mann ohne Eigenschaften (German Edition)

Der Mann ohne Eigenschaften (German Edition)

Titel: Der Mann ohne Eigenschaften (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Musil
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Rande der Haare, die dort ein wenig unregelmäßig auswichen, lag es; sie ließ ihre Hand darauf ruhen, wehrte jeden Gedanken ab und lauerte auf die Veränderung, die vor sich gehen sollte. Sofort spürte sie diese. Es war nicht das weiche Strömen der Wollust, sondern ihr Arm wurde steif, starr wie ein Männerarm; sie hatte den Eindruck, wenn sie ihn einmal richtig heben würde, könnte sie alles mit ihm niederschmettern! Sie nannte diese Stelle an ihrem Leib das Auge des Teufels. An dieser Stelle war ihr Vater umgekehrt. Das Auge des Teufels hatte einen Blick, der durch die Kleider drang; dieser Blick »faßte« die Männer »ins Auge«, zog sie gebannt an, aber erlaubte ihnen nicht, sich zu rühren, solange Clarisse wollte. Clarisse dachte manche Worte in Anführungszeichen, herausgehoben, so wie sie beim Schreiben manche Worte mit dicken Tintenbalken unterfuhr; solche herausgehobenen Worte hatten dann einen gespannten Sinn, ähnlich gespannt, wie es ihr Arm war; wer hat je daran gedacht, daß man mit dem Auge wirklich etwas fassen könne? Aber sie war der erste Mensch, der dieses Wort in der Hand hielt wie einen Stein, den man auf ein Ziel schleudern kann. Es war ein Teil der schmetternden Kraft ihres Arms. Und über all dem hatte sie das Winseln, worüber sie nachdenken wollte, vergessen und dachte an ihre jüngere Schwester Marion. Mit vier Jahren hatte man Marion nachts die Hände festbinden müssen, weil sie sonst ahnungslos, aus bloßer Freude am Angenehmen, unter die Decke gingen, wie zwei junge Bären in einen Honigbaum. Und später hatte sie, Clarisse, einmal Walter von Marion wegreißen müssen. Die Sinnlichkeit ging in ihrer Familie um, wie der Wein unter Weinbauern. Es war ein Schicksal. Sie trug schwere Last. Aber trotzdem gingen ihre Gedanken nun in der Vergangenheit spazieren, die Spannung im Arm löste sich zu einem natürlichen Zustand auf, und ihre Hand blieb vergessen im Schoß liegen. Sie sagte damals noch Sie zu Walter. Sie verdankte ihm eigentlich sehr viel. Er brachte die Botschaft, daß es neue Menschen gebe, die nur kühle, klare Möbel vertrügen und Bilder in ihre Zimmer hängten, auf denen die Wahrheit dargestellt sei. Er las ihr vor: Peter Altenberg, kleine Geschichten von kleinen Mädchen, die zwischen liebestollen Tulpenbeeten Reifen werfen und Augen besitzen, die so hell-süß unschuldig sind wie Marons glacés; und Clarisse wußte von diesem Augenblick an, daß ihre schlanken Beine, die ihr noch kindisch vorgekommen waren, ebensoviel bedeuteten wie ein Scherzo von »ich weiß nicht wem«.
    Sie lebten gerade alle in einem Sommerquartier, ein großer Kreis, mehrere Familien aus der Bekanntschaft hatten Villen an einem See gemietet, und alle Schlafzimmer waren doppelt besetzt mit Freunden und Freundinnen, die man eingeladen hatte. Clarisse schlief mit Marion, und um elf Uhr kam manchmal Dr. Meingast auf einer heimlichen Mondscheinrunde zu ihnen ins Zimmer, um zu plaudern, der jetzt in der Schweiz ein berühmter Mann war und damals den Vergnügungsmeister und Abgott aller Mütter abgab. Wie alt war sie damals? Fünfzehn oder sechzehn Jahre oder zwischen vierzehn und fünfzehn, als sein Schüler Georg Gröschl mitkam, der nur um weniges älter war als Marion und Clarisse? Und Dr. Meingast war an jenem Abend zerstreut, hielt bloß eine kurze Rede über Mondstrahlen, empfindungslos schlafende Eltern und neue Menschen, verschwand plötzlich und schien nur gekommen zu sein, um den stämmigen kleinen Georg, der sein Bewunderer war, bei den Mädchen zurückzulassen. Georg sagte nun nichts, fühlte sich wahrscheinlich eingeschüchtert, und die beiden Mädchen, die bis dahin Meingast geantwortet hatten, schwiegen auch. Aber dann biß wohl Georg im Dunkel die Zähne zusammen und trat an Marions Bett. Das Zimmer war von außen ein wenig erleuchtet, aber in den Ecken, wo die Betten standen, ragten undurchdringliche Schattenmassen, und Clarisse konnte nicht ausnehmen, was geschah; sie gewahrte nur, daß Georg aufrecht neben dem Bett zu stehen schien und auf Marion hinabsah, jedoch kehrte er Clarisse den Rücken zu, und Marion gab keinen Laut von sich, so als wäre sie nicht im Zimmer. Das dauerte sehr lange. Schließlich aber löste sich, während Marion sich so wenig wie vorher regte, Georg wie ein Mörder aus dem Schatten los, wurde in der mondhellen Zimmermitte einen Augenblick lang an Schulter und Seite bleich sichtbar und kam zu Clarisse, die sich rasch wieder niedergelegt und die Decke bis

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