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Der Mann ohne Eigenschaften (German Edition)

Der Mann ohne Eigenschaften (German Edition)

Titel: Der Mann ohne Eigenschaften (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Musil
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Knebelbärte trugen und wie die Maler aussahen, und die Maler große Kartons entwarfen, auf denen sie kompagnieweise mit bedeutsamen Figuren exerzierten; und den Privatmenschen schien es zu dieser Zeit gerade an der Zeit zu sein, daß auch für sie ein Verewigungsverfahren erfunden wurde. Es bleibt nur noch hinzuzufügen, daß sich nicht leicht Menschen einer anderen Zeit so genialisch und großartig gefühlt haben wie gerade die Menschen dieser Zeit, unter denen es so wenig ungewöhnliche Menschen gab – oder es gelang ihnen so selten, zwischen den anderen hochzukommen – wie noch nie.
    Und oft frug sich Ulrich dabei, ob es einen Zusammenhang gebe zwischen dieser Zeit, wo sich ein Photograph für genial halten konnte, weil er trank, einen offenen Halskragen trug und den seelischen Adel, den er besaß, mit Hilfe des modernsten Verfahrens auch an allen Zeitgenossen nachwies, die sich vor sein Objektiv stellten, und einer gewissen anderen Zeit, wo man nur noch Rennpferde, wegen ihrer alles übersteigenden Fähigkeit, sich zu strecken und zusammenzuziehen, aufrichtig für genial hält. Sie sehen verschieden aus; die Gegenwart sieht stolz auf die Vergangenheit herab, und wenn die Vergangenheit zufällig später gekommen wäre, so würde sie stolz auf die Gegenwart herabsehen, aber in der Hauptsache kommen beide auf etwas sehr Ähnliches hinaus, denn es spielen da wie dort Ungenauigkeit und Auslassung der entscheidenden Unterschiede die größte Rolle. Es wird ein Teil des Großen für das Ganze genommen, eine entfernte Analogie für die Erfüllung der Wahrheit, und der leergewordene Balg eines großen Worts wird nach der Mode des Tags ausgestopft. Das geht großartig, wenn es auch nicht lange hält. Die Menschen, die in Diotimas Salon sprachen, hatten in nichts ganz unrecht, weil ihre Begriffe so unscharf waren wie Gestalten in einer Waschküche. »Diese Begriffe, in denen das Leben hängt wie der Adler in seinen Schwingen!« dachte Ulrich. »Diese unzähligen moralischen und künstlerischen Begriffe des Lebens, die ihrem Wesen nach so zart sind wie harte Gebirge in undeutlicher Ferne!« Auf ihren Zungen vermehrten sie sich durch Drehung, und man konnte von keiner ihrer Ideen eine Weile sprechen, ohne unversehens schon in die nächste zu geraten.
    Diese Art Menschen hat sich zu allen Zeiten die neue Zeit genannt. Es ist das ein Wort wie ein Sack, in dem man die Winde des Aeolus fangen möchte; dieses Wort ist die beständige Entschuldigung dafür, die Dinge nicht in Ordnung zu bringen, das heißt, nicht in ihre eigene, eine sachliche Ordnung, sondern in den eingebildeten Zusammenhang eines Undings. Und doch liegt ein Bekenntnis darin. Die Überzeugung, daß sie die Aufgabe hätten, Ordnung in die Welt zu tragen, lebte in der sonderbarsten Weise in diesen Menschen. Wenn man das, was sie zu diesem Zweck unternahmen, Halbklugheit nennen wollte, so wäre bemerkenswert, daß gerade die andere, ungenannte, oder, um sie zu nennen, die dumme, niemals genaue und richtige Hälfte dieses Halbklugseins eine unerschöpfliche Erneuerungskraft und Fruchtbarkeit besaß. Es war Leben in ihr, Wandelbarkeit, Ruhelosigkeit, Standpunktwechsel. Aber sie spürten wohl selbst, wie das war. Es rüttelte an ihnen, es blies durch ihren Kopf, sie gehörten einem nervösen Zeitalter an, und es stimmte etwas nicht, jeder hielt sich für klug, aber alle zusammen fühlten sich unfruchtbar. Hatten sie noch dazu Talent – und ihre Ungenauigkeit schloß das ja keineswegs aus – so war es in ihrem Kopf, als ob man das Wetter und die Wolken, die Eisenbahnen, Telegraphendrähte, Bäume und Tiere und das ganze bewegte Bild unserer lieben Welt durch ein schmales, verkrustetes Fenster sähe; und keiner merkte es so leicht an seinem eigenen, aber jeder am Fenster des andren.
    Ulrich hatte sich einmal den Scherz gemacht, von ihnen genaue Angaben über das zu verlangen, was sie meinten; sie sahen ihn darauf mißbilligend an, nannten sein Begehren mechanische Lebensauffassung und Skepsis und stellten die Behauptung auf, daß das Komplizierteste nur auf das einfachste gelöst werden könne, so daß die neue Zeit, sobald sie sich erst aus der Gegenwart herauserlöst habe, ganz einfach ausschauen werde. Ulrich machte, im Gegensatz zu Arnheim, gar keinen Eindruck auf sie, und Tante Jane würde ihm das Gesicht gestreichelt und gesagt haben: »Ich verstehe sie sehr gut; du störst sie mit deinem Ernst.«

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General Stumm dringt in die Staatsbibliothek ein und

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