Der Mann ohne Eigenschaften (German Edition)
daß sie von der ihnen anvertrauten Literatur niemals mehr als die Büchertitel und das Inhaltsverzeichnis lesen. ‚Wer sich auf den Inhalt einläßt, ist als Bibliothekar verloren!‘ hat er mich belehrt. ‚Er wird niemals einen Überblick gewinnen!‘
Ich frage ihn atemlos: ‚Sie lesen also niemals eines von den Büchern?‘
‚ Nie; mit Ausnahme der Kataloge.‘
‚ Aber Sie sind doch Doktor?‘
‚ Gewiß. Sogar Universitätsdozent; Privatdozent für Bibliothekswesen. Die Bibliothekswissenschaft ist eine Wissenschaft auch allein und für sich‘ erklärte er. ‚Wieviele Systeme, glauben Sie, Herr General,‘ frägt er, ‚gibt es, nach denen man Bücher aufstellt, konserviert, ihre Titel ordnet, die Druckfehler und falschen Angaben auf ihren Titelseiten richtigstellt und so weiter?‘
Ich muß dir gestehn, wie er mich danach allein gelassen hat, hat es nur zweierlei gegeben, was ich gern getan hätte: entweder in Tränen ausbrechen oder mir eine Zigarette anzünden; aber beides war mir an diesem Ort nicht gestattet! Und was glaubst du, ist geschehen?« fuhr der General vergnügt fort. »Wie ich so verdutzt dastehe, nähert sich mir ein alter Diener, der uns wahrscheinlich schon beobachtet hatte, und er schlurft ein paarmal höflich um mich herum und bleibt dann auch stehn, schaut mich an und fängt mit einer Stimme zu sprechen an, die entweder vom Bücherstaub oder vom Trinkgeldgeschmack ganz mild war. ‚Was brauchen der Herr General?‘ fragt er mich. Ich wehre ab, aber der Alte fährt fort: ‚Es kommen oft Herren von der Kriegsschule zu uns: der Herr General brauchen mir nur zu sagen, für welches Thema Herr General augenblicklich Interesse haben? Julius Caesar, Prinz Eugen, Graf Daun? Oder soll es etwas Modernes sein? Wehrgesetz? Budgetverhandlungen?‘ Ich versichere dir, der Mann hat so vernünftig gesprochen und hat so viel gewußt, was in den Büchern drinsteht, daß ich ihm ein Trinkgeld gegeben und ihn gefragt habe, wie er das macht. Also was glaubst du? Er erzählt mir wieder, daß die Kriegsschüler, wenn sie eine schriftliche Aufgabe haben, manchmal zu ihm kommen und Bücher verlangen; ‚und dann schimpfen sie halt oft ein bißl, wenn ich ihnen die Bücher bring,‘ fährt er fort ‚was das für ein Unsinn ist, den sie lernen müssen, und dabei erfährt unsereiner allerhand. Oder es kommt der Herr Abgeordnete, der den Bericht über das Schulbudget abzufassen hat, und fragt mich, was der Herr Abgeordnete, der den Bericht im vergangenen Jahr abgefaßt hat, dazu für Unterlagen benutzt hat. Oder es kommt der Herr Prälat, der schon seit fünfzehn Jahren über bestimmte Käfer schreibt, oder einer von den Herrn Universitätsprofessoren beschwert sich, daß er schon drei Wochen lang ein bestimmtes Buch verlangt, ohne daß er es bekommt, und da müssen alle Nachbarregale durchsucht werden, ob es nicht verstellt worden ist, bis sich herausstellt, daß er es schon seit zwei Jahren bei sich zu Haus und nicht zurückgegeben hat. Und das geht jetzt schon so fast vierzig Jahre; da merkt man sich ganz von selbst, was der Mensch will und was er dazu liest.‘
‚ Na,‘ sag ich ihm ‚mein Lieber, was ich zu lesen suche, das kann ich Ihnen trotzdem nicht ganz so einfach auseinandersetzen!‘
Und was glaubst du, antwortet er mir? Er schaut mich bescheiden an, nickt und sagt: ‚Ich bitte gehorsamst, Herr General, das kommt natürlich vor. Erst unlängst hat eine Dame mit mir gesprochen, die genau das gleiche gesagt hat; vielleicht kennen sie Herr General, es ist die Frau Gemahlin vom Herrn Sektionschef Tuzzi aus dem Ministerium des Äußern?‘
Also was sagst du? Ich denke, mich trifft der Schlag! Und wie der Alte das merkt, bringt er mir richtig alle Bücher herbei, die sich Diotima dort reservieren läßt, und wenn ich jetzt in die Bibliothek komme, ist das geradezu wie eine heimliche geistige Hochzeit, und hie und da mach ich vorsichtig mit dem Blei an den Rand einer Seite ein Zeichen oder ein Wort und weiß, daß sie es am nächsten Tag finden wird, ohne eine Ahnung zu haben, wer da in ihrem Kopf drinnen ist, wenn sie darüber nachdenkt, was das heißen soll!«
Der General machte eine selige Pause. Aber danach riß er sich zusammen, bitterer Ernst strömte in sein Gesicht, und er fuhr von neuem fort: »Nimm dich jetzt, so gut du kannst, einen Augenblick zusammen, ich will dich etwas fragen. Wir alle sind doch überzeugt, daß unser Zeitalter so ziemlich das geordnetste ist, das es je gegeben
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