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Der Mann ohne Eigenschaften (German Edition)

Der Mann ohne Eigenschaften (German Edition)

Titel: Der Mann ohne Eigenschaften (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Musil
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die beiden nicht bemerkt, daß die Musik hinter ihnen zeitweilig aussetzte. Walter trat dann ans Fenster. Er konnte die beiden nicht sehn, aber er fühlte, daß sie knapp vor der Grenze seines Gesichtsfelds standen. Eifersucht quälte ihn. Gemeiner Rausch schwer sinnlicher Musik lockte ihn zurück. Das Klavier in seinem Rücken stand offen wie ein Bett, das ein Schläfer zerwühlt hat, der nicht aufwachen mag, um der Wirklichkeit nicht ins Gesicht sehen zu müssen. Die Eifersucht eines Gelähmten, der die Gesunden schreiten fühlt, peinigte ihn, und er brachte es nicht über sich, sich ihnen anzuschließen, denn sein Schmerz bot keine Möglichkeit, sich gegen sie zu verteidigen.
    Wenn Walter sich morgens erhob und ins Büro eilen mußte, wenn er tagsüber mit Menschen sprach und wenn er nachmittags zwischen ihnen nach Hause fuhr, fühlte er, daß er ein bedeutender Mensch sei und zu Besonderem berufen. Er glaubte dann alles anders zu sehen; ihn konnte das ergreifen, woran andere achtlos vorbeigingen, und wo andere achtlos nach einem Ding griffen, dort war für ihn schon die Bewegung des eigenen Arms voll geistiger Abenteuer oder in sich selbst verliebter Lähmung. Er war empfindsam, und sein Gefühl war immer bewegt von Grübeleien, Gruben, wogenden Tälern und Bergen; er war niemals gleichgültig, sondern sah in allem ein Glück oder ein Unglück und hatte dadurch stets die Gelegenheit zu lebhaften Gedanken. Solche Menschen üben eine ungewöhnliche Anziehung auf andere aus, weil sich die moralische Bewegung, in der sie sich unausgesetzt befinden, diesen mitteilt; in ihren Gesprächen nimmt alles eine persönliche Bedeutung an, und weil man sich im Verkehr mit ihnen unausgesetzt mit sich selbst beschäftigen darf, bereiten sie ein Vergnügen, das man sonst nur gegen Honorar bei einem Psychoanalytiker oder Individualpsychologen gewinnt, noch dazu mit dem Unterschied, daß man sich dort krank fühlt, während Walter den Menschen dazu verhalf, sich aus Gründen, die ihnen bisher entgangen waren, sehr wichtig vorzukommen. Mit dieser Eigenschaft, geistige Selbstbeschäftigung zu verbreiten, hatte er auch Clarisse erobert und mit der Zeit alle Mitbewerber aus dem Feld geschlagen; er konnte, weil ihm alles zu ethischer Bewegung wurde, überzeugend von der Unmoral des Ornaments, der Hygiene der glatten Form und dem Bierdunst der Wagnermusik sprechen, wie es dem neuen Kunstgeschmack entsprach, und selbst seinen zukünftigen Schwiegerpapa, der ein Malergehirn wie ein Pfauenrad hatte, setzte er damit in Schrecken. Es stand also außer Zweifel, daß Walter auf Erfolge zurückblicken durfte.
    Trotzdem, sobald er voll von Eindrücken und Plänen, die vielleicht so reif und neu waren wie nie vorher, zu Hause anlangte, ging jetzt eine entmutigende Veränderung mit ihm vor. Er brauchte nur eine Leinwand auf die Staffelei zu stellen oder ein Papier auf den Tisch zu legen, so war dies das Zeichen einer fürchterlichen Flucht aus seinem Herzen. Sein Kopf blieb klar, und der Plan darin schwebte gleichsam in einer sehr durchsichtigen und deutlichen Luft, ja der Plan spaltete sich und wurde zu zwei oder mehr Plänen, die um den Vorrang hätten streiten können; aber die Verbindung vom Kopf zu den ersten Bewegungen, die zur Ausführung notwendig gewesen wären, war wie abgeschnitten. Walter konnte sich nicht entschließen, auch nur einen Finger zu rühren. Er stand einfach nicht von dem Platz auf, wo er gerade saß, und seine Gedanken glitten an der Aufgabe, die er sich gestellt hatte, wie Schnee ab, der im Augenblick des Falls zergeht. Er wußte nicht, wovon die Zeit ausgefüllt wurde, aber ehe er sich dessen versah, ward es Abend, und da er nach einigen solchen Erfahrungen schon mit der Angst vor ihnen nach Hause kam, fingen ganze Wochenreihen zu gleiten an und vergingen wie ein wüster Halbschlaf. Durch Aussichtslosigkeit in allen seinen Entscheidungen und Bewegungen verlangsamt, litt er an bitterer Traurigkeit, und seine Unfähigkeit wurde zu einem Schmerz, der oft wie Nasenbluten hinter seiner Stirne saß, sobald er sich entschließen wollte, etwas zu unternehmen. Walter war furchtsam, und die Erscheinungen, die er an sich wahrnahm, hinderten ihn nicht nur an der Arbeit, sondern sie ängstigten ihn auch sehr, denn sie waren scheinbar so unabhängig von seinem Willen, daß sie oft auf ihn den Eindruck eines beginnenden geistigen Verfalls machten.
    Aber während sein Zustand im Lauf des letzten Jahrs immer schlimmer geworden war, hatte

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