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Der Mann ohne Eigenschaften (German Edition)

Der Mann ohne Eigenschaften (German Edition)

Titel: Der Mann ohne Eigenschaften (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Musil
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er zugleich eine wunderbare Hilfe an einem Gedanken gefunden, den er früher nie genug geschätzt hatte. Dieser Gedanke war kein anderer als der, daß das Europa, in dem er zu leben gezwungen war, rettungslos entartet sei. In Zeitaltern, denen es äußerlich gut geht, während sie innerlich jenes Zurücksinken durchmachen, das wahrscheinlich jede Angelegenheit und darum auch die geistige Entwicklung erfährt, wenn man ihr nicht besondere Anstrengungen und neue Ideen zuwendet, müßte es wohl eigentlich die nächstliegende Frage sein, was man dagegen unternehmen könne; aber das Gewirr von klug, dumm, gemein, schön ist gerade in solchen Zeiten so dicht und verwickelt, daß es offenbar vielen Menschen einfacher erscheint, an ein Geheimnis zu glauben, weshalb sie einen unaufhaltsamen Niedergang von irgendetwas verkünden, das sich dem genauen Urteil entzieht und von feierlicher Unschärfe ist. Es ist dabei im Grunde ganz gleich, ob das die Rasse, die Pflanzenrohkost oder die Seele sein soll, denn wie bei jedem gesunden Pessimismus kommt es nur darauf an, daß man etwas Unentrinnbares hat, woran man sich halten kann. Auch Walter, obgleich er in besseren Jahren über solche Lehren zu lachen vermocht hatte, kam, als er es selbst mit ihnen zu versuchen begann, bald auf ihre großen Vorteile. War bis dahin er arbeitsunfähig gewesen und hatte sich schlecht gefühlt, so war jetzt die Zeit unfähig und er gesund. Sein Leben, das zu nichts geführt hatte, fand mit einemmal eine ungeheure Erklärung, eine Rechtfertigung in säkularen Ausmaßen, die seiner würdig war, ja es nahm geradezu die Art eines großen Opfers an, wenn er den Stift oder die Feder in die Hand nahm und wieder weglegte.
    Jedoch hatte Walter noch mit sich zu kämpfen, und Clarisse quälte ihn. Für zeitkritische Gespräche war sie nicht zu haben, sie glaubte schnurstracks an das Genie. Was das sei, wußte sie nicht; aber ihr ganzer Körper begann zu zittern und sich zu spannen, wenn davon die Rede war; man fühlt es oder man fühlt es nicht, da s war ihr einziges Beweisstück. Immer blieb sie das kleine, grausame fünfzehnjährige Mädchen für ihn. Niemals hatte sie sein Fühlen ganz verstanden oder hatte er sie beherrschen können. Aber so kalt und hart, wie sie war, und dann wieder so begeistert, mit ihrem substanzlos flammenden Willen, besaß sie eine geheimnisvolle Fähigkeit, auf ihn einzuwirken, als ob Stöße durch sie hindurch aus einer Richtung kämen, die in den drei Dimensionen des Raums nicht unterzubringen war. Es grenzte manchmal ans Unheimliche. Namentlich wenn sie gemeinsam musizierten, fühlte er das. Clarissens Spiel war hart und farblos, einem ihm fremden Gesetz der Erregung gehorchend; wenn die Körper bis zum Durchschimmern der Seele glühten, kam es erschreckend zu ihm herüber. Etwas Unbestimmbares riß sich dann los in ihr und drohte mit ihrem Geist davonzufliegen. Es kam aus einem geheimen Hohlraum in ihrem Wesen, den man ängstlich verschlossen halten mußte: er wußte nicht, woran er das fühlte und was es war; aber es peinigte ihn mit einer unaussprechlichen Angst und dem Bedürfnis, etwas Entscheidendes dagegen zu tun, was er nicht vermochte, denn niemand außer ihm bemerkte etwas davon.
    Es war ihm halbklar bewußt, während er durch das Fenster Clarisse zurückkehren sah, daß er dem Bedürfnis, schlecht von Ulrich zu sprechen, wieder nicht werde widerstehen können. Ulrich war zur Unzeit zurückgekommen. Er schädigte Clarisse. Er verschlimmerte ruchlos in ihr, woran Walter sich nicht zu rühren getraute, die Kaverne des Unheils, das Arme, Kranke, unselig Genialische in Clarisse, den geheimen leeren Raum, wo es an Ketten riß, die eines Tags ganz nachlassen konnten. Nun stand sie barhaupt vor ihm, eben eingetreten, den Gartenhut in der Hand, und er sah sie an. Ihre Augen waren spöttisch, klar, zärtlich; vielleicht ein wenig zu klar. Zuweilen hatte er das Gefühl, daß sie einfach eine Kraft besitze, die ihm fehle. Wie einen Stachel, der ihn nicht zur Ruhe kommen lassen sollte, hatte er sie schon als Kind empfunden und offenbar hatte er sie selbst nie anders gewollt; das war vielleicht das Geheimnis seines Lebens, das die beiden anderen nicht verstanden.
    »Tief sind unsere Schmerzen!« dachte er. »Ich glaube, daß es nicht oft vorkommt, daß zwei einander so tief lieben, wie wir es tun müssen.« Und er fing ohne Übergang zu sprechen an: »Ich will nicht wissen, was dir Ulo erzählt hat, aber ich kann dir sagen, seine

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