Der Mann ohne Eigenschaften (German Edition)
füglich einen Schluß auf Eigenschaften ziehen, die in einer vorteilhaften Weise persönliche Unentbehrlichkeit mit bescheidenem Zurücktretenkönnen vereinen müssen, und Ulrich war nicht weit davon entfernt, sich den einflußreichen Sektionschef als eine Art properen Kavalleriewachtmeister vorzustellen, der hochadelige Einjährige kommandieren muß. Dazu paßte als Ergänzung eine Lebensgefährtin, die er sich, trotz der Anpreisungen ihrer Schönheit, nicht mehr jung, ehrgeizig und mit einem bürgerlichen Korsett von Bildung dachte.
Aber Ulrich wurde heftig überrascht. Als er ihr seine Aufwartung machte, empfing ihn Diotima mit dem nachsichtigen Lächeln der bedeutenden Frau, die weiß, daß sie auch schön ist, und den oberflächlichen Männern verzeihen muß, daß sie daran immer zuerst denken.
»Ich habe Sie schon erwartet« sagte sie, und Ulrich wußte nicht recht, war das liebenswürdig oder tadelnd. Die Hand, welche sie ihm reichte, war fett und gewichtslos.
Er hielt sie einen Augenblick zu lang fest, seine Gedanken vermochten sich nicht gleich von dieser Hand zu trennen. Wie ein dickes Blütenblatt lag sie in der seinen; die spitzen Nägel wie Flügeldecken, schienen imstande zu sein, mit ihr jeden Augenblick ins Unwahrscheinliche davonzufliegen. Die Überspanntheit der Frauenhand hatte ihn überwältigt, eines im Grunde ziemlich schamlos menschlichen Organs, das wie eine Hundeschnauze alles betastet, aber öffentlich der Sitz von Treue, Adel und Zartheit ist. Während dieser Sekunden stellte er fest, daß Diotimas Hals mehrere Wülste trug, von zartester Haut überzogen; ihr Haar war zu einem griechischen Knoten geschlungen, der starr abstand und in seiner Vollkommenheit einem Wespennest glich. Ulrich fühlte sich von etwas Feindseligem bedrängt, einer Lust, diese lächelnde Frau zu empören, aber er konnte sich der Schönheit Diotimas nicht ganz entziehen.
Auch Diotima sah ihn lange und beinahe prüfend an. Sie hatte manches von diesem Vetter gehört, das für ihr Ohr eine leichte Schattierung von privatem Skandal besaß, und außerdem war dieser Mann mit ihr verwandt. Ulrich nahm wahr, daß auch sie sich dem körperlichen Eindruck nicht ganz entziehen konnte, den er auf sie machte. Er war ihn gewohnt. Er war glatt rasiert, groß, durchgebildet und biegsam muskulös, sein Gesicht war hell und undurchsichtig; mit einem Wort, er kam sich manchmal selbst wie ein Vorurteil vor, das sich die meisten Frauen von einem eindrucksvollen noch jungen Mann bilden, und hatte bloß nicht immer die Kraft, sie rechtzeitig davon abzubringen. Diotima aber wehrte sich dagegen, indem sie ihn geistig bemitleidete. Ulrich konnte beobachten, daß sie dauernd seine Erscheinung betrachtete und offenbar nicht ungefällige Gefühle dabei hatte, während sie sich vielleicht sagte, daß die edlen Eigenschaften, die er so sinnfällig zu besitzen schien, durch ein schlechtes Leben unterdrückt sein mußten und gerettet werden konnten. Von ihrem Aussehen ging, obgleich sie nicht viel jünger als Ulrich und körperlich in aufgeschlossener Vollblüte war, geistig etwas unerschlossen Jungfräuliches aus, das einen sonderbaren Gegensatz zu ihrem Selbstbewußtsein bildete. So betrachteten sie einander noch. während sie schon sprachen.
Diotima begann damit, daß sie die Parallelaktion für eine geradezu nie wiederkehrende Gelegenheit erklärte, das zu verwirklichen, was man für das Wichtigste und Größte halte. »Wir müssen und wollen eine ganz große Idee verwirklichen. Wir haben die Gelegenheit und dürfen uns ihr nicht entziehn!«
Ulrich fragte naiv: »Denken Sie an etwas Bestimmtes?«
Nein, Diotima dachte nicht an etwas Bestimmtes. Wie hätte sie das auch tun können! Niemand, der vom Größten und Wichtigsten der Welt spricht, meint, daß es das wirklich gebe. Aber welcher sonderbaren Eigenschaft der Welt kommt das gleich? Alles läuft darauf hinaus, daß das eine größer, wichtiger oder auch schöner oder trauriger ist als das andere, also auf eine Rangordnung und einen Komparativ, und dazu gibt es nun keine Spitze und keinen Superlativ? Macht man jedoch jemand, der gerade vom Wichtigsten und Größten sprechen will, darauf aufmerksam, so faßt er das Mißtrauen, es mit einem gefühllosen und unidealistischen Menschen zu tun zu haben. So ging es Diotima, und so hatte Ulrich gesprochen.
Diotima fand, als eine Frau, deren Geist bewundert wurde, Ulrichs Einwand respektlos. Sie lächelte nach einer Weile und antwortete: »Es
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