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Der Mann ohne Eigenschaften (German Edition)

Der Mann ohne Eigenschaften (German Edition)

Titel: Der Mann ohne Eigenschaften (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Musil
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ungebrochener Zeiten trugen und eine geheimnisvolle Willenskraft ausströmten. Clarisse war ihm freundlich begegnet, sie war nun in der ungeheuren Welt der Musik fest an ihn gebunden. Es trug alles an diesem Tag ein geheimes Gelingen in sich, einen lautlosen Marsch, wie wenn Götter auf dem Wege sind. »Vielleicht ist heute der Tag?« dachte Walter. Er wollte Clarisse ja nicht durch Zwang zu sich zurückbringen, sondern zu innerst aus ihr selbst sollte die Erkenntnis aufsteigen und sie sanft zu ihm herüberneigen.
    Das Klavier hämmerte schimmernde Notenköpfe in eine Wand aus Luft. Obgleich dieser Vorgang in seinem Ursprung ganz und gar wirklich war, verschwanden die Mauern des Zimmers, und es erhob sich an ihrer Stelle das goldene Gewände der Musik, dieser geheimnisvolle Raum, in dem Ich und Welt, Wahrnehmung und Gefühl, Innen und Außen auf das Unbestimmteste ineinanderstürzen, während er selbst ganz und gar aus Empfindung, Bestimmtheit, Genauigkeit, ja aus einer Hierarchie des Glanzes geordneter Einzelheiten besteht. An diesen sinnlichen Einzelheiten waren die Fäden des Gefühls befestigt, die sich aus dem wogenden Dunst der Seelen spannen; und dieser Dunst spiegelte sich in der Präzision der Wände und kam sich selbst deutlich vor. Wie puppige Kokons hingen die Seelen der beiden Menschen in den Fäden und Strahlen. Je dicker eingewickelt und breiter ausgestrahlt sie wurden, desto wohliger fühlte sich Walter, und seine Träume nahmen so sehr die Gestalt eines kleinen Kindes an, daß er hie und da begann, die Töne falsch und zu gefühlig zu betonen.
    Aber ehe das kam und bewirkte, daß ein durch den goldenen Nebel schlagender Funke gewöhnlichen Gefühls die beiden wieder in irdische Beziehung zu einander brachte, waren Clarissens Gedanken von den seinen schon der Art nach so verschieden, wie es zwei Menschen nur zuwege bringen können, die mit zwillingshaften Gebärden der Verzweiflung und Seligkeit nebeneinander hinstürmen. In flatternden Nebeln sprangen Bilder auf, verschmolzen, überzogen einander, verschwanden, das war Clarissens Denken; sie hatte darin eine eigene Art; oft waren mehrere Gedanken gleichzeitig ineinander da, oft gar keiner, aber dann konnte man die Gedanken wie Dämonen hinter der Bühne stehen fühlen, und das zeitliche Nacheinander der Erlebnisse, das anderen Menschen eine richtige Stütze abgibt, wurde in Clarisse zu einem Schleier, der seine Falten bald dicht übereinander warf, bald in einen kaum noch sichtbaren Hauch auflöste.
    Drei Personen waren diesmal um Clarisse; Walter, Ulrich und der Frauenmörder Moosbrugger.
    Von Moosbrugger hatte ihr Ulrich erzählt.
    Anziehung und Abstoßung mischten sich darin zu einem sonderbaren Bann.
    Clarisse nagte an der Wurzel der Liebe. Zwiespältig ist sie, mit Kuß und Biß, mit Aneinanderhängen der Blicke und gequältem Wegdrehen des Auges im letzten Augenblick. »Drängt das gute Miteinanderauskommen zum Haß?« fragte sie sich. »Will das anständige Leben die Roheit? Bedarf das Friedliche der Grausamkeit? Verlangt die Ordnung nach Zerrissenwerden?« Das war es, und war es nicht, was Moosbrugger erregte. Unter dem Donner der Musik schwebte ein Weltbrand um sie, ein noch nicht ausgebrochener Weltbrand; innerlich am Gebälk fressend. Aber so wie in einem Gleichnis, wo die Dinge die gleichen sind, dawider aber auch ganz verschieden sind, und aus der Ungleichnis des Gleichen wie aus der Gleichnis des Ungleichen zwei Rauchsäulen aufsteigen, mit dem märchenhaften Geruch von Bratäpfeln und ins Feuer gestreuten Fichtenzweigen, war es auch.
    »Man dürfte nie zu spielen aufhören« sagte sich Clarisse und begann mit raschem Herumwerfen der Notenblätter das Stück von vorne, als es zu Ende war. Walter lächelte befangen und folgte ihr.
    »Was macht Ulrich eigentlich mit der Mathematik?« fragte sie ihn.
    Walter zuckte im Spiel die Schultern, als steuerte er einen Rennwagen.
    »Man müßte weiter und weiter spielen, bis zum Ende« dachte Clarisse. »Wenn man bis ans Lebensende ununterbrochen spielen könnte, was wäre dann Moosbrugger? Schauerlich? Ein Narr? Ein schwarzer Vogel des Himmels?« Sie wußte es nicht.
    Sie wußte überhaupt nichts. Eines Tags – sie hätte auf den Tag ausrechnen können, wann das geschah, – war sie aus dem Schlaf der Kindheit erwacht, und da war auch schon die Überzeugung fertig gewesen, daß sie berufen sei, etwas auszurichten, eine besondere Rolle zu spielen, vielleicht sogar zu etwas Großem ausersehen sei.

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