Der Mann ohne Eigenschaften (German Edition)
Sie wußte damals noch gar nichts von der Welt. Sie glaubte auch nichts von dem, was man ihr darüber erzählte, die Eltern, der ältere Bruder: das waren klappernde Worte, ganz gut und ganz schön, aber man konnte sich nicht aneignen, was sie sagten; man konnte einfach nicht, so wenig wie ein chemischer Körper einen anderen aufnimmt, der ihm nicht »eignet«. Dann kam Walter, das war der Tag; von diesem Tag an war alles »eigen«. Walter trug einen kleinen Schnurrbart, ein Bürstchen; er sagte: Fräulein; mit einemmal war die Welt keine wüste, regellose, zerbrochene Fläche mehr, sondern ein schimmernder Kreis, Walter ein Mittelpunkt, sie ein Mittelpunkt, zwei in einen zusammenfallende Mittelpunkte waren sie. Erde, Häuser, abgefallene und nicht weggefegte Blätter, schmerzende Luftlinien (sie erinnerte sich an den Augenblick, als einen der quälendsten der Kindheit, wo sie mit ihrem Vater auf einer »Aussicht« stand und er, der Maler, sich eine Endlosigkeit lang daran entzückte, während sie der Blick in die Welt längs dieser langen Luftlinien bloß schmerzte, als ob sie mit dem Finger über eine Linealkante fahren müßte): aus solchen Dingen hatte früher das Dasein bestanden und war nun mit einemmal ihr zu eigen geworden, wie Fleisch von ihrem Fleische.
Sie wußte nun, daß sie etwas Titanenhaftes tun werde; was es sein würde, vermochte sie noch nicht zu sagen, aber einstweilen empfand sie es am heftigsten bei Musik und hoffte dann, daß Walter ein noch größeres Genie sein werde als Nietzsche; von Ulrich zu schweigen, der später auftauchte und ihr bloß Nietzsches Werke geschenkt hatte.
Von da an war es vorwärts gegangen. Wie rasch, war nun gar nicht mehr zu sagen. Wie schlecht hatte sie früher Klavier gespielt, wie wenig von Musik verstanden; jetzt spielte sie besser als Walter. Und wieviel Bücher hatte sie gelesen! Woher waren sie alle gekommen? Sie sah das vor sich wie schwarze Vögel, die in Scharen um ein kleines Mädchen flattern, das im Schnee steht. Aber etwas später sah sie eine schwarze Wand und weiße Flecken darin; schwarz war alles, was sie nicht kannte, und obgleich das Weiße zu kleinen und größeren Inseln zusammenlief, blieb das Schwarze unverändert unendlich. Von diesem Schwarz ging Angst und Aufregung aus. »Es ist der Teufel?« dachte sie. »Ist der Teufel Moosbrugger geworden??« dachte sie. Zwischen den weißen Flecken bemerkte sie jetzt dünne graue Wege: so war sie in ihrem Leben von einem zum anderen gekommen; das waren Geschehnisse; Abreisen, Ankünfte, erregte Aussprachen, Kampf mit den Eltern, die Heirat, das Haus, unerhörtes Ringen mit Walter. Die dünnen grauen Wege schlängelten sich. »Schlangen!« dachte Clarisse »Schlingen!« Diese Geschehnisse umschlangen sie, hielten sie fest, ließen sie nicht dorthin kommen, wohin sie wollte, waren schlüpfrig und machten sie unversehens an einen Punkt schießen, den sie nicht wünschte.
Schlangen, Schlingen, schlüpfrig: so lief das Leben. Ihre Gedanken fingen an zu laufen wie das Leben. Die Spitzen ihrer Finger tauchten in den Sturzbach der Musik. Im Bachbett der Musik kamen Schlangen und Schlingen herunter. Da tat sich rettend w ie eine stille Bucht das Gefängnis auf, in dem Moosbrugger verborgengehalten wurde. Clarissens Gedanken traten schaudernd in seine Zelle ein. »Man muß bis zum Ende Musik machen!« wiederholte sie sich aufmunternd, aber ihr Herz zitterte heftig. Als es sich beruhigt hatte, war die ganze Zelle mit ihrem Ich angefüllt. Das war ein so mildes Gefühl wie eine Wundsalbe, aber als sie es für immer festhalten wollte, fing es sich zu öffnen an und auseinanderzuschieben wie ein Märchen oder ein Traum. Moosbrugger saß mit aufgestütztem Haupt, und sie löste seine Fesseln. Während sich ihre Finger bewegten, kam Kraft, Mut, Tugend, Güte, Schönheit, Reichtum in die Zelle, wie ein Wind, durch ihre Finger gerufen, der von verschiedenen Wiesen kommt. »Es ist ganz gleichgültig, warum ich das tun mag« fühlte Clarisse »wichtig ist nur, daß ich es jetzt tue!« Sie legte ihm ihre Hände, einen Teil ihres eigenen Körpers, auf die Augen, und als sie die Finger wegzog, war Moosbrugger ein schöner Jüngling geworden, und sie selbst stand als eine wunderbar schöne Frau neben ihm, deren Körper so süß und weich war wie Südwein und gar nicht widerspenstig, wie es der Körper der kleinen Clarisse sonst war. »Es ist unsre Unschuldsgestalt!« stellte sie in einer tief unten denkenden Schicht ihres
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