Der Mann zweier Welten
daß er sein Leben wahrscheinlich den Frauenkleidern zu verdanken hatte.
Der Mann war kräftig und hatte haarige, nackte Arme. In seinem Gesicht stand ein dunkler Bart, aber die Augen wirkten jung und scharf. Ketan schloß die Hand um einen spitzen Stein, der neben dem Ufer lag.
Der Mann sagte etwas in unverständlichen Lauten. In diesem Augenblick bewegte sich Ketan. Sein Arm mit dem Stein schlug blitzschnell gegen die Stirn des Fremden. Der Mann kippte lautlos nach hinten um. Ein Blutfaden lief aus der Wunde in seinen Bart.
Ketan war übel. Der Anblick von Blut war mehr, als ein Sucher von Kronweld ertragen konnte. Er erhob sich zitternd und lief weg, ohne noch einmal umzusehen.
Und dann hörte er wieder diesen Schmerzensschrei.
Vor einem Eingang im Felsen brannte ein niedriges Feuer. Er wußte instinktiv, daß der Schrei aus der Höhle gekommen war.
Wenn es ein Ort für Sterbende war, dann machte er lieber einen großen Bogen. Sein Leben lang war ihm eingetrichtert worden, daß ein kranker Mensch nicht geheilt werden konnte. Man mußte ihn sterben lassen.
Und doch gab es Sucher, die behaupteten, diese Ansicht sei falsch. Ketan hatte auf ihrer Seite gestanden. Das Mitleid überwog. Er ging auf die Höhle zu. Es schien, als kämen die Schmerzenslaute von einer Frau.
In dem Dämmerlicht konnte er zuerst gar nichts erkennen. Aber es war jemand da. Er wartete, bis sich seine Augen an das Flackern gewöhnt hatten, das von der rauchenden, kleinen Öllampe in der Ecke kam.
Vor ihm, auf einem niedrigen Lager aus Zweigen und Blättern, lag eine Frau, die sich vor Schmerzen krümmte. Sie versuchte eine Flasche zu erreichen, die in einer Wandnische stand. Ketan gab sie ihr.
Sie sah ihn dankbar an. Ihre Augen glänzten, und sie schien gar nicht zu bemerken, daß er ein Fremder war.
Sie hielt einen Lappen in der Hand, den sie mit dem Inhalt der Flasche befeuchtete. Ketan erkannte den scharfen Geruch. Sie hielt den Lappen an die Nase und atmete tief ein.
Sie wollte sich also selbst töten. Er hatte kein Recht hier zu bleiben. Er drehte sich schon um, aber die Neugier des Suchers überwog. Wer war sie, und weshalb war sie hier? Von welcher Stadt war sie gekommen?
Das Tuch fiel von ihrem Gesicht. Er bückte sich, um es wieder aufzuheben, denn sie sollte schnell sterben. Erst jetzt sah er ihren aufgetriebenen Körper. Er schrak zurück. So etwas hatte er in Kronweld nie gesehen.
Doch – einmal. Die Bors!
Er riß den Lappen von ihrem Gesicht. Sie durfte nicht sterben. Ihr Atem kam stoßweise. Ketan fühlte sich hilflos und verwirrt. Das Ziel seines Suchens schien vor ihm zu liegen, und er wußte nicht, was er tun sollte.
Er fuhr auf, als im Eingang der Höhle ein Schatten erschien. Es war der Mann, den er für tot gehalten hatte. Der Fremde schien ihn in dem Halbdunkel nicht zu sehen. Er ließ sich neben das Lager fallen. »Mary!« stöhnte er.
Dann sah er Ketan. Er knurrte und wollte aufspringen, aber als er die Flasche und den Lappen sah, den Ketan in der Hand hielt, beugte er sich wieder über die Frau.
Sein Ausdruck wurde weicher. Ein dankbares Lächeln stahl sich über die düsteren Züge. Er streckte die Hand aus. Zögernd sah Ketan auf sie herab, dann verstand er und gab dem Mann seine Hand.
Wieder kamen die Fragen. Wer waren die beiden? Und wie hieß das Land? Vielleicht war es jenseits von Nachtland. Niemand war bis jetzt an seine Grenzen vorgedrungen. Es gab nur undurchdringlichen Morast und dampfende, kochende Sümpfe, in denen schreckliche Lebewesen herumschwammen und flogen.
Der Mann richtete sich plötzlich auf und winkte Ketan nach draußen. In dem schwächer werdenden Tageslicht sahen sich die beiden verwundert an. Es schien, als sehe sich der Fremde nach einem Verfolger um. Seine Nervosität übertrug sich auf Ketan.
Er sagte etwas, das wie ein Befehl klang. Ketan verstand kein Wort. Und doch war die Betonung und die Wortbildung so ähnlich wie in seiner eigenen Sprache.
Der müde, hagere Fremde merkte, daß Ketan nicht verstand. Er warf einen Armvoll Holz auf das Feuer vor der Höhle. Er hielt einen Kessel über die Flammen und wartete ungeduldig, bis das Wasser zu kochen begann. Dann holte er ein scharfes Messer aus der Tasche, hielt es in die Flammen und wickelte es schnell in ein Tuch. Als letzte Vorbereitung tauchte er die Hände in das kochende Wasser, rieb sie heftig mit Sand ab und tauchte sie noch einmal hinein. Er band sich ein viereckiges Tuch vor das Gesicht und wickelte auch seine
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