Der Marschenmörder
aus dem Küchenfenster auf die in der Frühdämmerung gespenstisch in den Himmel ragenden Ruinen des Nachbarhofes. Die Flammen sind erloschen, doch ein leichter Ostwind trägt Rauch und beißenden Brandgeruch herüber. Ausgelaugte Helfer in verschmutzter Kleidung machen sich schleppenden Schrittes auf den Heimweg. Ein paar von ihnen, darunter der Dorfgendarm Hinrich Ahrens, bleiben als Brandwache. Und bei den Toten. Die Menge der Schaulustigen hat sich zerstreut.
Der alte Bauer blickt auf Timm herunter, der unverändert auf dem Rücken im Tiefschlaf liegt. Und er fragt sich, wie er dem Nachbarssohn möglichst schonend die Nachricht vom Tod der Familie beibringen soll und von dem Zustand der bis jetzt geborgenen Leichen, der eindeutig auf ein Verbrechen hinweist.
Gewiss, sinniert Jakob Schwarzkopf, Timm litt unter der Geringschätzung des Vaters, dem Schweigen der Mutter und dem Hohn der Brüder. Umso mehr schätzte er die Anhänglichkeit des 14-jährigen Reimer, der stets Partei für ihn ergriff, wenn de Grooten in ihrer Grobheit zu weit gingen. Und lächelnd steckte er Annas arglose Bosheiten weg, mit denen sie ihn bisweilen kichernd neckte.
Schwer aber hatte es ihn getroffen und nie hat er verwunden, dass er ausgeschlossen wurde, als der Vater Martin, Johann und Cornils eine eigene Schafhaltung erlaubte, einen einträglichen Nebenverdienst. Die jungen Männer kauften im Frühjahr Lämmer, ließen sie mit Einverständnis des Deichgrafen unentgeltlich auf dem Stördeich und dem fruchtbaren Deichvorland grasen und veräußerten sie im Spätherbst mit beachtlichem Gewinn. Genug, um an Sonntagen im Dorfkrug zu prassen und zu prahlen und auf dem Jahrmarkt in Wilster übertrieben modisch gekleidet die jungen Herren zu markieren, während Timm sich nur selten einen Humpen Bier leisten konnte. Denn Johann Thode zahlte seinen Söhnen keinen Lohn, warf allenfalls an Geburtstagen, zum Erntedank und nach besonders harter Arbeit ein paar Taler auf den Tisch.
Kein Wunder, dass Timm immer wieder versuchte, sich mit kleinen Diebereien und Betrügereien ein Taschengeld zu beschaffen. Und es setzte Prügel vom Vater und von den Brüdern, wenn er erwischt wurde. Bis Johann Thode im Jahr 1860 die Geduld verlor und ihn bei einem Landwirt im Kreis Pinneberg als Kleinknecht verdingte. Lange hielt es Timm weder dort noch auf anderen Hofstellen aus, vernachlässigte die Arbeit, wurde davongejagt oder machte sich nachts heimlich aus dem Staub.
Ganze vierzehn Tage blieb er als Müllerbursche beim Mühlenbesitzer Heinrich Lemcke in Krummendiek. Dann vernichtete am 21. Juni 1864 ein verheerender Brand Mühle und Wohnhaus und brachte den Meister und seine Familie an den Rand des Ruins. Von Timm wurde lobend berichtet, er habe sich an den vergeblichen Löschversuchen buchstäblich bis zum Umfallen beteiligt.
Als er tags darauf vor der Tür seines Geburtshauses stand, abgerissen und stumm um Aufnahme flehend, und Johann Thode ihn wiederum abweisen wollte, sprach die Mutter ein Machtwort: „De Jung blifft hier! Een för allemool!“
„Ik mutt dat eenfach versöken“, murmelt Jakob Schwarzkopf. Mühsam steht er auf, packt Timms Schulter, versucht ihn wachzurütteln: „Wook op, Jung! Ik mutt mit di snacken. Ik heff di so veel to fragen!“ Doch Timm verharrt in tiefem Schlaf.
12
Johannes Schwarzkopf treibt seinen Holsteiner zur Eile an, stößt ihm die klobigen Absätze seiner Stiefel in die Flanken, gönnt dem Wallach keine Verschnaufpause. Sein Kopf schwirrt wie ein Bienenschwarm. Zuviel ist in den letzten Stunden auf ihn eingestürzt. Auf der Brandstätte reihte sich Johannes sogleich in die Schar der Helfer ein, kämpfte gegen die Flammen ohne Rücksicht auf Leib und Leben.
Als das erste Opfer geborgen war, nahm Hinrich Ahrens ihn beiseite: „Jehann, du ritts na Itzeho. Trummels den Justizrood ut de Puuch. He mutt kamen. Op de Stell. De Saak hier wast mi övern Kopp.“
Johannes schwang sich auf den Braunen. Raste zum elterlichen Hof, um das Pferd zu satteln. Licht in der Küche? Er trat näher. Blickte in ein gelblich blasses Gesicht. „Dat, dat is doch Timm!“ Hanne Schwarzkopf nickte. „Jo. Dat is Timm. He kunn sik redden.“
Er verließ die Küche. Die Mutter eilte hinterher. „Jehann! Wo wullt du hin?“ Da hat er sich bereits aufs Pferd geschwungen. „Ik mutt weg. Na Itzeho.“
Abwechselnd trabend und galoppierend trägt Max den jungen Mann am Fluss entlang, vorbei an Hodorf, Kasenort, Stördorf. Über die
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