Der Marschenmörder
ihn kaum eines Blickes würdigen, ignoriert Timm. Er genießt es, als einziger Mann am Tisch zu sitzen, fordert eine zweite Portion Bratkartoffeln, schlürft genießerisch die Milchsuppe, bricht vom Roggenbrot große Stücke, kaut schmatzend.
Den „Weibern“ gegenüber gibt er sich zunächst schweigsam und mürrisch, dann zunehmend aufgeräumt und großspurig. Auf gekünstelte Art versucht er zu scherzen: „Geiht doch nix över een ruhich Huus.“ Abel wirft ihm einen kurzen Blick zu, schielt suchend nach den für die Brüder gedeckten Plätzen.
Anna, die Lebhafte, stets Vergnügte, bemerkt es, springt auf, will sie zum Abendessen rufen. Timm erstarrt. Erkennt die gefährliche Situation. Hebt abwehrend die Hand und findet blitzschnell eine Erklärung: „De sünd op’t Feld. De Ossen sünd utbroken un all wedder in den Weeten!“
Das rettet ihn. Denn erst vor einigen Tagen haben die Rinder im Weizen erheblichen Schaden angerichtet und den Bauern zu Wutausbrüchen gebracht.
Eine knappe Stunde später rollt der Landauer auf den Hof. Bauer Johann und seine Frau Margaretha betreten das Haus und suchen sofort das Schlafzimmer auf, denn die Arbeit auf dem Marschhof beginnt um fünf Uhr in der Frühe. Timm hat die Ankunft vom Kuhstall aus beobachtet. Während Johann die Pferde ausspannt, geht er zum Wagenschauer, öffnet einen der Türflügel und ruft dem Bruder zu, ihm zu helfen, ein Wagen stehe im Wege. Er stellt sich hinter den geschlossenen Türflügel und erschlägt mit der Spake den arglos eintretenden Johann.
Abermals muss Timm die Kleidung wechseln. In den Kammern der Brüder findet er Jacke und Hose, wartet bis gegen 22 Uhr, schleicht ums Wohnhaus und klopft an das Fenster des elterlichen Schlafzimmers.
Der Vater, schon im Halbschlaf, ist sofort hellwach, als er hört, die Ochsen seien wieder im Weizen, die Brüder seien bereits dort. „Denn mutt ik wull mit“, seufzt Johann Thode. Nach wenigen Minuten steht er vor der Haustür, nickt Timm kurz zu: „Kumm!“ Und geht mit schnellen, langen Schritten voran in Richtung des Weizenfeldes. Timm hält sich, die Spake unter einem Brett versteckt, knapp hinter ihm, knallt sie dem Vater, kaum dass sie den Hof verlassen haben, gegen die linke Schläfe. Sofort schlägt er ein zweites und drittes Mal zu. Er weiß um die in der gesamten Wilstermarsch legendäre Kraft des 56-Jährigen, von dem man erzählt, er könne mit einer Hand einen 240 Pfund schweren Mehlsack stemmen. Doch gegen die hinterhältige Heimtücke seines Sohnes hat er keine Chance.
Timm holt vom nahen Hof eine Schubkarre und einen Spaten. Gräbt eine Grasnarbe auf, legt die Leiche auf die Karre und bedeckt sie mit den Soden. Schafft sie in den Pferdestall.
Die beiden Schäferhunde, seine Lieblinge, riechen Blut. Bellen wütend, fletschen die Zähne. Timm erwürgt einen, versucht dem anderen die Kehle durchzuschneiden. Der entkommt und läuft heulend davon.
3
Der Mord an seinem Vater, der Transport des mehr als zwei Zentner schweren Körpers mit der Schubkarre zum Pferdestall hat Timm erschöpft. Es mag auch die alles beherrschende Persönlichkeit des angesehenen Marschbauern gewesen sein, die ihn vor Angst erbeben ließ, bevor er das Mordinstrument zum ersten Schlag hob gegen den einzigen Menschen, der für ihn eine Respektsperson war, trotz aller Geringschätzung, mit der Johann Thode seinen Zweitgeborenen behandelte.
Blass und schweißbedeckt sitzt er vor dem Pferdestall auf einem Sägebock, schaut über den Hof. Das Wohnhaus liegt im Dunkeln, in keinem der vielen Räume brennt Licht. Ruckartig steht er auf, schleudert die Bake in eine Ecke hinter dem Dunghaufen und ergreift eine an einen Holzblock angelehnte Axt. Forschen Schrittes überquert er den Hof und betritt das Haus, dessen Türen wie immer unverschlossen sind.
Leise öffnet er die Tür zum Schlafzimmer der Eltern, erschrickt, als er die Mutter im Halbdunkel am Fenster stehen sieht. Auf dem Nachttisch flackert eine Kerze. Sie spendet gerade so viel Licht, dass er die Umrisse der Frau erkennen kann. Wie angewurzelt bleibt Timm im Türrahmen stehen. Doch Margaretha Thode dreht sich nicht um, blickt unverwandt in Richtung der großen Hofpforte. Sie wartet offenbar auf ihren Mann, den sie draußen auf dem Feld wähnt, wo er gemeinsam mit den Söhnen versucht, die Ochsen aus dem kurz vor dem Einbringen stehenden Weizen zu vertreiben.
Timm nähert sich, die Axt in der Rechten, leise, mit angehaltenem Atem der Mutter, die ihm immer
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