Der Memory Code
Begräbnis vorzubereiten. Aber noch konnte er sie nicht verlassen. Hilflos streckte er die Hand aus und strich ihr eine Strähne aus der Stirn. Es war das erste Mal, dass er Sabina berührte. Tränen rannen über seine Wangen. Er konnte sich nicht entsinnen, wann er das letzte Mal geweint hatte.
“Sabina!” Wieder war’s wie ein Schrei, nicht bloß ein Wort, erst recht kein Gebet.
Und dann plötzlich schien es ihm so, als gebe der Wind ihm Antwort, als liege in seinem Wehen ein Wispern, das wie sein Name klang. Julius senkte seinen Blick auf die Liegende.
Sabina war nicht durch den giftigen Rauch umgekommen!
Er vernahm ein Geräusch, das überhaupt nicht zu diesem Bild passte. Laut. Jaulend. Unmenschlich. Nein! Es war der Krankenwagen, der wie aus weiter, blaugrüner Ferne angerast kam.
Sabina blickte zu ihm auf, die Augen voller Verlangen und Qual.
Doch die Sirene, sie riss ihn hoch, zog ihn fort durch die trübe, körnige Schwere, hinein in eine ganz andere Hölle.
11. KAPITEL
R om, Italien – Dienstag, 08:12 Uhr
Drei Rettungssanitäter drängten sich mit einem Male in der Krypta, für Josh plötzlich zu viele Menschen auf klaustrophobisch engem Raum. So gern er auch aus der nunmehr nach Blut riechenden Grabkammer entkommen wäre – es ging nicht. Er wich so weit wie möglich aus, presste sich rücklings gegen eine Wand und sah dem Rettungstrupp zu, der nun in Aktion trat.
Die Sanitäterin legte dem Verwundeten eine Blutdruckmanschette an. Einer ihrer Kollegen tupfte den anderen Arm ab und führte eine Nadel für den Infusionstropf in die Vene ein. Der dritte, offenbar der Notarzt, wandte sich an Joshua und stellte ihm Fragen in gebrochenem Englisch.
Wie lange ist das alles her?
Seit wann ist der Professor bewusstlos?
Kennen Sie die Familie des Professors?
Haben Sie ihre Telefonnummer?
Eine Viertelstunde.
Fünf Minuten.
Nein.
Nein.
Er wusste es nicht.
Die Sanitäter agierten mit eingeübter Präzision, ganz auf ihre Tätigkeit konzentriert und anscheinend ohne zu merken, wo sie waren oder dass sich in einer Ecke eine in der Mitte auseinandergebrochene mumifizierte Leiche befand. Josh hingegen starrte die Mumie unverwandt an, fixierte sie ganz genau.
Von seinem Platz aus konnte er das farb-und reglose Gesicht des Professors sehen. Rudolfos Augen waren offen, und seine Lippen bewegten sich, als wolle er Worte formulieren. Hören konnte Josh allerdings nichts, weswegen er sich so nahe wie möglich heranschob, dabei aber darauf bedacht, nicht im Wege zu stehen. Auf diesem engen Raum bedeutete das allerhöchstens zwei Schritte.
Der Professor flüsterte etwas auf Italienisch, immer dasselbe Wort, wieder und wieder.
“Was sagt er da?”, wollte Josh wissen.
“ Aspetta . Wartet auf sie. Er wiederholt es die ganze Zeit.”
Sie verarzteten den Schwerverletzten noch einige Minuten. Dann zählte die Sanitäterin bis drei – uno, due, tre –, und gemeinsam hoben sie ihn vom Boden auf, fixierten ihn auf einer Trage und bugsierten ihn nach einigem Hin und Her die Leiter hinauf, hinaus aus der Krypta.
Josh kletterte ihnen hinterher.
Zügig, doch gleichzeitig vorsichtig, um den Verwundeten keinen Erschütterungen auszusetzen, wurde Rudolfo zu einem wartenden Rettungswagen gerollt. Aus der Ferne drang derweil das lauter werdende Brummen eines Automotors, und im nächsten Moment sah Josh einen marineblauen Fiat, der über den Feldweg auf die Ausgrabungsstätte zugebraust kam, hinter sich eine gewaltige Staubwolke. Kurz darauf stoppte der Wagen mit quietschenden Bremsen, und eine hochgewachsene Frau sprang an der Fahrerseite heraus. Sie schien ein regelrechtes Energiebündel zu sein, und sie bewegte sich dermaßen schnell, dass Josh Mühe hatte, alles deutlich mitzubekommen. Sie eilte auf die Rolltrage zu. Ihre Haut war sonnengebräunt, die Wangenknochen hoch, das honigblonde Haar vom Wind zerzaust. Als sie die Sanitäter ansprach, klang ihre Stimme ebenso autoritär wie ängstlich. Selbst unter Belastung schwang ein lyrischer Unterton in ihren Worten mit. Josh war derart hingerissen von ihrer Erscheinung, dass er Malachai erst bemerkte, als der ihm etwas zurief.
“Alles in Ordnung mit dir?”, fragte Malachai.
“Ja, alles klar. Nichts passiert. Aber ich muss unbedingt mit Professor Chase sprechen.” Josh wies auf die aus dem Auto gestiegene Blondine. “Ist sie das?”
“Schon, aber erst …”
“Ich musste dem Professor in die Hand versprechen, dass ich ihr berichte, was vorgefallen ist,
Weitere Kostenlose Bücher