Der Memory Code
zwischen der allumfassenden heidnischen Ordnung und den Tausenden von Römern, die an die Lehren des Propheten Jesus von Nazareth glaubten oder zumindest Lippenbekenntnisse ablegten, um sich der kaiserlichen Gunst zu versichern – es wurde zu einem hässlichen Bruderkrieg zwischen zwei Lebensarten, zwischen vielen Göttern und dem einen.
Der römische Götterglaube war ein Mosaik wie die Muster auf dem Fußboden des Tempels; er bestand aus Dutzenden von Sekten, Religionen und Kulten. In Rom hatte jahrhundertelang Religionsfreiheit geherrscht. Warum also musste der alte Glaube zerstört werden, um Platz für einen neuen zu schaffen?
Julius orientierte sich an der quellenden grauen Wolke. Das Feuer wütete offenbar ganz in der Nähe des Atrium Vestae. Das war die Villa, in der die Vestalinnen wohnten, unmittelbar hinter dem kreisrunden Tempel der Vesta am Ostrand des Forum Romanum. Der um einen eleganten Innenhof erbaute Palast mit seinen vierundachtzig Räumen war im Laufe seiner Geschichte bereits mehrmals niedergebrannt. Es entbehrte nicht einer gewissen Ironie, dass ausgerechnet die Göttin des heiligen Feuers die größte Gefahr für ihre eigenen Hüterinnen darstellte.
Während die prasselnden, rötlich-gelben Flammen immer höher zum Himmel loderten, trafen sie alle ein, einer nach dem anderen: Priester und Bürger, würgend und fast erstickend am Rauch, doch fest entschlossen, das Atrium zu retten und sicherzustellen, dass das Feuer nicht auf den Tempel übergriff. Nicht allein Bauwerke waren gefährdet, sondern auch sagenumwobene Kostbarkeiten, dem Hörensagen nach verborgen in einer unterirdischen Geheimkammer unter dem heiligen Herd.
Als Julius eintraf, waren bereits zwei Dutzend Männer dabei, das Feuer zu bekämpfen. Bürger aus allen Berufen und Schichten bildeten eine freiwillige Feuerwehr, die im Bedarfsfall unverzüglich zum Brand eilte und ihn löschte. Ein kleines Feuer konnte die vielen Holzbauten im Handumdrehen in ein Flammenmeer verwandeln.
Zu seinem Entsetzen erkannte Julius, dass einer der Wehrleute gar kein Mann war, sondern eine Frau. Sie hatte am Feuer nichts verloren, es war zu gefährlich. Die Männer indes waren so mit der Brandbekämpfung beschäftigt, dass sie die Frau nicht vom Feuer fortziehen, ja nicht einmal warnen konnten. Außerdem wusste Julius: selbst wenn sie es versucht hätten, wäre es vergebens gewesen. Sie hätte im Nu wieder in vorderster Linie gestanden.
Trotz war charakteristisch für Sabina. Den Mitschwestern, von denen sie unterwiesen worden war, hatte sie permanent das Leben schwer gemacht. Sie bewunderten zwar ihren Scharfsinn, führten aber Klage darüber, dass ihre hartnäckige, halsstarrige Art einer Priesterin nicht gut anstand.
Das galt auch für ihre Verachtung für ihn.
In Gegenwart von anderen erwies sie ihm gerade so viel Mindestmaß an Respekt, dass sie sich keinen Ärger einhandelte. Begegneten sie sich aber einmal, wenn niemand zugegen war, machte sie aus ihrer Abneigung keinen Hehl. An manchen Tagen fand er es zum Lachen, dass sie ihn mit solcher Feindseligkeit behandelte. Dann wiederum hätte er sie am liebsten für ihre Unverschämtheiten bestraft. Das Ganze behagte ihm nicht, denn eigentlich gab es keinen Grund für ihr Verhalten. Erst recht bestand kein Anlass, dass er sich trotz ihrer abweisenden Haltung zu ihr hingezogen fühlte. Dass er sie bewunderte. Ermunterte.
Als ranghöchste Priesterin verhielt Sabina sich vorbildlich, doch im Gegensatz zu den anderen Vestalinnen bewies sie einen dickköpfigen Charakter. Sie weigerte sich standhaft, ihre gesamte Persönlichkeit der Gruppe unterzuordnen. Diese Eigenschaft hatte sie in den vergangenen Jahren zu einer der höchst gebildeten aller Schwestern befördert. Sie hatte die Heilkunst studiert und das Handwerk des Medikus erlernt, obwohl sie sich damit in ihrem ohnehin schon vollen Tagesplan noch mehr Verantwortung auflud. Wenn alte Sitten und Gebräuche ihr nicht mehr einleuchteten, dann stellte sie diese infrage, änderte sie ab und hauchte der alten Ordnung neues Leben ein. Auch wenn sie sich dadurch von den älteren Vestalinnen und den konservativen Priestern entfremdete, setzte sie sich mit Mut und Leidenschaft durch. In letzter Zeit hatte sie selbst von überzeugten Traditionalisten Beifall für ihre Anstrengungen erhalten.
Mit lautem Krachen stürzte ein Teil des Gebäudes in sich zusammen. Das Feuer gewann die Oberhand. Sabina mühte sich ebenso fleißig wie Julius, die Flammen
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