Der Mönch und die Jüdin
Refektorium versammeln!«
Konrad sehnte sich danach, seine Träume nach dem Aufwachen abschütteln zu können, wie man sich nach einem langen Marsch den Staub aus den Kleidern schüttelt. Viele Leute hatten das Glück, ihre Träume gleich wieder zu vergessen oder sich gar nicht erst an sie erinnern zu können. Ihm saßen die Bilder manchmal noch den ganzen Tag im Nacken – beim Schreibdienst in der Bibliothek genauso wie bei der Arbeit im Kräutergarten.
Warum war der Alptraum zurückgekehrt? Er hatte gehofft, ihn mit seiner Jugend hinter sich lassen zu können. Und warum konnte er sich an die ersten sechs Jahre seines Lebens überhaupt nicht erinnern? Da waren nur die schrecklichen Alptraumbilder, die ihn immer wieder peinigten, weiter nichts, als hätte jemand in Konrads Gedächtnis eine Mauer aufgeschichtet. Andere Mönche erinnerten sich sehr gut an die Zeit, als sie vier oder fünf Jahre alt gewesen waren, und erzählten manchmal davon – von ihren Eltern und Großeltern, ihren Geschwistern. Ihm fehlte das alles. Es war, als wäre er mit sechs Jahren plötzlich vom Himmel gefallen und hätte nichts mitgebracht außer dem grauenhaften Feuertraum.
Schlaftrunken taumelte er hinter Matthäus her durch die Morgendämmerung. Der ganze Konvent war bereits im Refektorium versammelt, an dem langen Tisch, wo sie sonst ihre Mahlzeiten einnahmen. Der Platz am Kopf des Tisches war leer. Anselm von Berg, der Prior, saß weiterhin an seinem angestammten Platz rechts von Abt Balduins verwaistem Stuhl. Sie hatten Balduin schon vor über vier Wochen auf dem kleinen Klosterfriedhof begraben, so schlicht, wie er es sich gewünscht hatte. Doch obwohl sein Platz jetzt leer war, schien er Konrad immer noch allgegenwärtig zu sein.
Konrad setzte sich eilig, mit gesenktem Kopf auf seinen Stuhl zwischen Matthäus und Fulbert, dem Bibliothekar. Er war ein hagerer, ernster Mann und lebte jetzt seit fünf Jahren hier im Kloster. Konrad hatte ihn noch nie lächeln sehen. Beim Kopieren im Skriptorium war Fulbert unerbittlich streng. Jede Nachlässigkeit hatte laute Zurechtweisungen zur Folge, was Konrad das Schreiben, das zusammen mit der Garten- und Küchenarbeit unter Matthäus' Aufsicht zu seinen täglichen Pflichten gehörte, beinahe verleidete.
Doch Buchstaben besaßen für ihn etwas Magisches. Er sehnte sich danach, sich einmal in aller Ruhe mit ihnen zu beschäftigen. Aber Fulbert verlangte ihm ein unerbittliches Arbeitspensum ab. In seiner strengen, ernsten Art war er noch fordernder als Abt Balduin. Trotzdem war er auch sehr fromm und versuchte, Konrad etwas von dieser Frömmigkeit zu vermitteln. Es fiel ihm schwer, den Bibliothekar zu mögen, aber er respektierte Fulbert.
Vor Anselm lag eine Pergamentrolle auf dem Tisch, an der das leuchtend rote Siegel des Erzbischofs prangte. Erst gestern war der Prior, der ein eigenes Pferd besaß, aus Köln zurückgekehrt. Konrad hatte im Kräutergarten gearbeitet und beobachtet, wie Anselm die Pergamentrolle aus der Satteltasche gezogen und sich unter den Arm geklemmt hatte. Anselm hatte Konrad geradezu verschwörerisch zugezwinkert, ohne dass Konrad dies richtig zu deuten vermocht hätte.
Man wusste nie recht, woran man bei dem Mönchsritter war. Mal konnte er richtig freundlich sein, und dann wieder benahm er sich herrisch und ungeduldig, oder er kränkte andere durch sarkastische und spöttische Bemerkungen. Er machte es anderen wirklich nicht leicht, ihn zu mögen. Und doch war Konrad von Anselm fasziniert. Er merkte, dass er viel über ihn und seine oft schneidenden Bemerkungen nachdachte. Sie bewirkten, dass Konrad das Leben hier im Kloster in einem viel kritischeren Licht sah als zuvor.
»Gute Nachrichten«, hatte Anselm, die Pergamentrolle unter dem Arm, leise zu ihm gesagt. »Die Langeweile im Kloster hat jetzt bald ein Ende.«
Dann war er in dem von Balduin stets gemiedenen Abthaus verschwunden, wo er gleich nach dessen Tod Quartier bezogen hatte. Wenn Anselm nicht zugegen war, machten Matthäus und Fulbert kein Hehl daraus, dass sie das als unverschämt und anmaßend betrachteten. Aber offenen Widerspruch wagte keiner von ihnen zu zeigen. Dazu trugen neben der Tatsache, dass der Prior nun Vertreter des Erzbischofs hier im Konvent war, gewiss auch Anselms kräftige Statur und sein ritterliches Gehabe bei. Er war der einzige Mönch hier, der ein Schwert trug, und Konrad zweifelte keinen Augenblick daran, dass der Prior es auch zu gebrauchen verstand. Die Mönche erzählten
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