Der Mord an Harriet Krohn (German Edition)
Krankheit, erklärt ihnen mit feierlicher Stimme, was ihm im Laufe der nächsten Jahre vielleicht noch alles widerfahren wird. Sie hören zu und nicken, zeigen aber nicht die Teilnahme, die er sich wünscht. Noch kommt er zurecht, aber ab und zu wartet er auf den großen Ausbruch. Die Krankheit ist wie ein schlummernder Vulkan, oft liegt er auf der Pritsche und nimmt einfach nur wahr. Nichts, was in seinem Körper geschieht, entgeht seiner Aufmerksamkeit, es gibt nichts, was er nicht hinterfragt. Ein Seitenstich, ein Zucken in der Wade, alles wird analysiert.
Endlich darf er Besuch bekommen. Er teilt das Julie mit und fängt an zu warten. Er dreht in seiner Zelle kleine Runden, um seinen Körper aufzuwärmen. Er hat soviel auf dem Herzen. Sie hat doch ein Anrecht auf eine Erklärung. Er weiß, daß er die Worte hat. Jetzt ist er in Gedanken und dann mit seinem Verteidiger alles so oft durchgegangen. Er weiß, daß er die Panik erklären kann. Als sie sich von hinten auf ihn gestürzt und losgeschrien hat. Er schaut auf die Uhr, er schaut aus dem Fenster. Streicht die Decke auf der Pritsche glatt, zieht nervös an seinem Kragen. Sie ist doch so klug, seine Julie, so einsichtig. Er glaubt, daß alles gutgehen wird. Er kämmt sich mit den Fingern, schaut auf die Uhr und wartet. Seine Ohren lauschen in Richtung Flur, er horcht auf Schritte und Schlüssel. Bald werden sie in der Tür stehen und sagen, Besuch für dich, Torp. Von der Oscarsgate bis zum Untersuchungsgefängnis braucht sie zu Fuß fünf Minuten, sie kommt sicher pünktlich. Sie freut sich sicher darüber, ihn sehen zu können, er dreht noch eine Runde. Er bereitet sich vor, hat das Gefühl, die Kontrolle zu haben. Zum Schluß bleibt er am Fenster stehen. Draußen ist nicht viel Verkehr. Ab und zu ein Auto, ab und zu eine Frau mit einem Kinderwagen, es ist heiß, die Sonne scheint. Er kommt gar nicht auf die Idee, daß er Jahre in einer solchen Zelle verbringen wird, das ist für ihn unvorstellbar. Er kommt nicht auf die Idee, daß er seine Strafe absitzen muß, er ist doch krank. Deshalb ist er heiter und guten Mutes, er denkt nur daran, daß Julie gleich kommen wird.
Er ist ganz sicher, daß sie kommen wird.
DIE STADT IST in ständiger Veränderung begriffen und erinnert an eine Großbaustelle mit Baufahrzeugen und Kränen. Auf den Straßen sind die Menschen unterwegs, die guten und die schlechten. Die schwachen und die starken. Die, die nie auf die Probe gestellt worden sind. Die in glücklicher Unwissenheit darüber leben, was eigentlich in ihnen haust, in den düsteren Winkeln ihres Wesens. Im Osten wohnt die Mittelklasse, im Westen wohnen die Vermögenden, und je höher man an den Hängen kommt, um so größer und teurer sind die Villen. Unten am Hang liegt das Gerichtsgebäude. Ein leicht gebogenes schmutziggraues Gebäude aus Eisen, Glas und Beton. Im sechsten Stock liegt das Untersuchungsgefängnis. Eine tiefstehende Sonne trifft ein Fenster, malt ein Rechteck aus Licht auf den grünen Boden. Die Zelle ist acht Quadratmeter groß und enthält einen Tisch und eine Pritsche. Er liegt unbeweglich da, hat die Hände wie eine Schale unter seinem Kopf, und in seinen Socken spreizt er ein wenig die Zehen. Die Zeit fließt durch ihn hindurch, genauso wie draußen der Fluß, unermüdlich und gleichmäßig. Er liegt da und wartet auf das Mittagessen, er merkt, wie ihm der Magen knurrt. Er beschließt, einen Brief zu schreiben. Schreiben ist etwas Lustbetontes, und so kann er die letzte Stunde herum bringen. Er steht auf, geht zum Tisch, zieht den Stuhl darunter hervor. Öffnet einen linierten Block. Er holt tief Luft und berührt mit dem Kugelschreiber das Blatt, er schreibt
Julie. Mein Mädchen.
Hier ist Papa schon wieder, entschuldige, daß ich nerve, aber Du weißt, wir haben jetzt soviel zu besprechen, und deshalb werde ich Dir weiterschreiben, bis Du antwortest. Du wirst doch antworten? Ich gehe davon aus, daß Du meine Nachricht erhalten hast, darüber, daß ich jetzt Besuch bekommen darf, Du kannst jederzeit kommen, die sind hier ziemlich unkompliziert, aber es ist besser, wenn Du vorher anrufst, dann kann ich mich vorbereiten, ich muß zugeben, daß ich ein wenig nervös bin, aber wir kennen uns doch, und das hier können wir klären, da bin ich mir sicher. Und deshalb wirst Du wohl eines Tages auftauchen, wenn Du gerade Zeit hast, ich gehe ja nicht weg, und es ist mir so wichtig, alles zu erklären. Du hast doch ein Anrecht auf eine Erklärung.
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