Das Glück der Zikaden
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Prolog
»F rüher träumte ich häufig davon«, sagte Katarina zu Gregor, »daß ich auf meine Mutter treffe, und obwohl in den Träumen immer andere Einzelheiten vorkamen, blieb die Überraschung gleich. Manchmal traf ich Senta in unserer alten Küche im Eckhaus, vor der Renovierung, als alles noch holzgetäfelt war, dunkelbraun, mit grasgrünen Gardinen. Ein anderes Mal traf ich sie auf dem Mittelstreifen des Kurfürstendamms. Und dann auf einer zusammengezimmerten Bühne, vor einer Menschenmenge, und sie hielt eine Rede. Sie wirkte immer herzlich und zugewandt. Ich sagte ihr dann, es täte mir leid, daß ich mich so selten blicken lasse. Daraufhin bekam ich von ihr – der Frau, die den Eindruck erweckte, ihr Leben lang irgendwie auf der falschen Seite gestanden zu haben – eine Antwort, die mich erstaunte und beglückte. Ach, sagte sie, du bist auch hier. Das ist aber schön. Alle Träume hörten da auf, vermutlich weil meine Hoffnung zu sehr durchschimmerte, der Wunsch nach Versöhnung zu einfach war. Irgendwann kam mir der Gedanke, daß ihre Träume in bezug auf ihre Mutter vielleicht gar nicht unähnlich waren – meine Großmutter, Nadja, die sich selbst ein russisches Revuemädchen genannt und ihren Walroßbart-Diktator ins Herz geschlossen hatte. Keinem anderen Menschen mehr Zutritt zu ihrem Paralleluniversum gewährte, so hieß es. Natürlich wünschte ich mir prompt Träume herbei, in denen wir drei Frauen uns auf der plötzlich wunderbar richtigen Seite trafen.« Katarina versuchte, ihre Verlegenheit mit einem Lächeln zu überspielen. »Daher erzählen wir uns Geschichten, nicht?«
Gregor saß neben ihr auf der niedrigen Marmorstufe, hinter ihnen wurden gerade die Eingangstüren geöffnet. Im Foyer sammelten sich die Besucher. Ohne lange nachzudenken, hatte Katarina das Theater als Treffpunkt ausgesucht. Es schien ihr wie ein neutrales Terrain. Es wäre zu seltsam gewesen, sich bei Gregor einzuladen, unvermittelt seine Wohnung zu betreten. Genauso hatte sie ihn nicht ins Eckhaus bitten wollen. Wie zwei Pole, lagen diese Orte weit voneinander entfernt, und es war gut, sich in einer undefinierbaren Mitte zu treffen.
Er schien auf seine Knie zu schauen, oder auf die Spitzen seiner flachgelaufenen Segelschuhe. In Jeans und schwarzblauem Troyer wirkte er auch sonst wie jemand, der besser in einen Hafen paßte als in das Foyer eines Theaters.
»Deine Mutter«, sagte er, ohne Katarina anzuschauen, »die sich so beharrlich weigert, sich lieben zu lassen.«
Sie folgte einem Impuls, aufzustehen, denn ihr Mut schwand und Bewegung half gegen das unangenehme Gefühl. Gregor drehte sich zu ihr, er hatte wieder diesen offenen Ausdruck in seinem schlichten Gesicht. Vielleicht eine rudimentäre Anmut, die jede Form von Anpassung überlebt hatte.
Katarina war sich mit einem Mal sicher, daß ihre zur Verschwiegenheit neigende, weltabgewandte Mutter ihm nicht gesagt hatte, was sie beide verband. Daß Katarina seine Tochter war. Aber wollte sie wissen, warum Senta die Wahrheit gescheut hatte? Wer ihre Mutter mit ihrem verborgenen Leben war? Wer das Spiel, eine andere vorzugeben, als die, die man war, in die Familie gebracht hatte? Nadja, ihre Großmutter, das Revuemädchen, das viele Frauen gespielt, aber die, die sie selbst war, gut verborgen hatte. War es nicht besser, diese Geschichten nicht zu kennen, sie ruhen zu lassen? Was änderte es, und wer hatte schon großes Interesse an grundsätzlichen Einwänden. Und überhaupt, wie sollte das aussehen für Gregor, die plötzliche Erkenntnis: Ich hab eine Tochter. Ich gehöre zu dieser Familie. Vielen Dank, und jetzt?
»Ich glaube, wir sollten reingehen, das Stück anschauen«, sagte Katarina und drehte sich zum Gehen.
»Nein«, sagte er bestimmt und zeigte ihr, daß sie sich wieder setzen sollte.
D er Himmel war weißblau wie der Schnee, und mit jedem Schritt eroberte Nadja sich ein unbetretenes Feld. Das Pferd kam nur noch langsam voran, es blieb wiederholt stehen, schnaubte, dampfte aus den Nüstern und winkelte abwechselnd die hinteren Hufe zur Entspannung an. Es war noch ein Stück, der Weg durch den Wald bis zum See. Eine weiße Schneise zwischen den graubraunen Bäumen, die Büsche am Rand sahen aus wie Fontänen, deren Wasser plötzlich zu Eis gefroren war. Nichts war zu hören, nur sie und das Pferd, dessen Schnaufen, dessen Geruch sie so mochte. Es war ein eigenwilliges, verläßliches Pferd, es war das Pferd des Nachbarn; immer, wenn sie draußen
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