Der Mord an Harriet Krohn (German Edition)
kann. Aber auf lange Sicht. Wenn man den Rest des Lebens betrachtet.«
»Davon bin ich nicht überzeugt«, sagt Charlo. »Ich stelle mir vor, daß eine Sünde größer wird, wenn man sie anderen zeigt. Daß sie wächst und eine Menge Unglück hervorruft.«
»Für den Moment ja. Aber ich spreche vom Rest des Lebens«, sagt Sejer. »Ich denke daran, daß wir irgendwann sterben müssen. Wir werden in einem Bett liegen und wissen, daß es auf das Ende zugeht. Wenn wir es schaffen wollen, müssen wir das Leben loslassen. Alles von uns legen. Wenn wir uns niemandem anvertrauen, müssen wir das ganze Unglück mit ins Grab nehmen. Das würde mir nicht gefallen.«
Charlo denkt darüber nach.
»Man nimmt nichts mit ins Grab.«
»Nein. Aber man trägt es durch den Todesprozeß mit sich. Und der ist sicher auch so schon schwer genug. Oder nicht?«
Charlo greift wieder nach seinem Tabak. Der Hund verschwindet in einem Gebüsch und gräbt eifrig mit seinen Welpenpfoten, die Erde fliegt nur so durch die Luft.
»Ich mag Katzen lieber«, sagt Charlo.
»Wieso das?«
»Die beanspruchen einen nicht auf dieselbe Weise wie Hunde. Der Hund ist so präsent, so fordernd. Der macht sich die ganze Zeit bemerkbar. Keucht. Bettelt. Die Katze steht eher am Rand, sie kommt auf den Schoß, wenn sie Lust dazu hat, und geht wieder, wenn sie nicht mehr will. Sie stört die Gedanken nicht.«
»Das gefällt Ihnen nicht? In Ihren Gedanken gestört zu werden?«
»Nein, dann werde ich sauer. In der Hinsicht bin ich ziemlich kindisch.«
»Als also der Toyota in Ihren Wagen hineingefahren ist, hat Sie das in Ihren Gedanken gestört?«
»Ja. Ich hatte mich gerade zutiefst konzentriert, auf andere Dinge.«
»Erzählen Sie.«
»Der Tag war lang und schlimm gewesen. Ich wollte endlich nach Hause. Zu meinem Sessel und meinem Bett. In Gedanken war ich schon zu Hause, sehnte mich dorthin. Und deshalb war ich unaufmerksam.«
Er gibt sich Feuer und zieht an der Zigarette.
»Weil der Abend eine solche Belastung gewesen war?«
»Ja. Er war eine Belastung. Ich kam mir vor wie an den Rand gedrängt, unter mir gab es nur noch den Abgrund. Ich konnte den Rest des Lebens nicht sehen, ich sah nur Dunkelheit und Verzweiflung.«
»Konnten Sie niemanden anrufen?«
»Nein. Ich habe nur Julie. Und sie muß um jeden Preis geschont werden, ich darf sie in meine Probleme nicht hineinziehen.«
»Glauben Sie, daß Sie das verhindern können? Kinder werden doch älter. Und sie verstehen viel.«
»Das schon. Sie haben recht. Und daß sie gescheit ist, das wissen die Götter. Aber ich kann die Vorstellung nicht ertragen, daß sie sich Sorgen um mich machen könnte. Kinder sollten sich um die Erwachsenen keine Sorgen machen müssen.«
»Aber sie ist doch kein Kind. Sie ist siebzehn. Wie denken Sie jetzt über Julie? Sie weiß doch, wo Sie sind. Sie sitzt allein da, mit ihren Gedanken. Wartet. Schaut auf die Uhr. Ihre Phantasie geht ihre eigenen Wege.«
»Ja, ich werde ihr alles erklären. Ich werde alles erklären«, sagt er noch einmal und zieht an seiner Zigarette. Sein Gesicht drückt Entschlossenheit aus.
»Sie haben also eine Erklärung?«
»Natürlich.«
»Eine gute?«
»Ich finde, ja.«
Sejer steuert eine Bank an. Er setzt sich. Charlo folgt seinem Beispiel.
»Werde ich sie auch gut finden?«
Sejer sieht Charlos an.
»Weiß nicht. Glaub nicht.«
»Sie sollten mich nicht unterschätzen.«
»Nein. Aber Sie haben nie meine Sorgen gehabt.«
»Ich habe mit meinen eigenen auch wirklich genug zu tun.«
Wieder schweigen sie, halten ihre Gesichter in die Sonne.
»Sie sehen nicht aus wie einer, der viel durchgemacht hat«, sagt Charlo nach einer Pause. »Ihnen geht’s doch gut. Feiner Posten und schönes Büro. Verantwortung. Ich habe nichts davon, hab so was auch nie gehabt.«
»Haben Sie sich das gewünscht?«
»Natürlich. Aber ich war total besessen vom Spiel. Das hat alles kaputtgemacht. Meine Familie.«
»Ja, wir werden von Dingen besessen, wir werden von Dingen getroffen. Trotzdem haben wir immer die Wahl.«
»So habe ich das nie empfunden. Ich habe mich immer getrieben gefühlt.«
»Zu Spielsucht und Unterschlagungen getrieben?«
»Ja. Sie reden wie die meisten. Die sagen, daß man selbst entscheiden und mit den destruktiven Dingen aufhören kann. Das zeugt von einem Mangel an Phantasie und Verständnis dafür, was einen Menschen ausmacht.«
»Und was macht einen Menschen aus?«
Charlo schließt die Augen. »Darauf gibt es wohl ebenso
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